Referendum in Äthiopien: Ethnische Zerreißprobe

Äthiopiens Sidama-Volksgruppe erkämpft sich mehr Autonomie. Die ethnische Fragmentierung des Vielvölkerstaates schreitet voran.

Wähler stehen Schlange

Schlangestehen vor den Wahllokalen: Am Abstammungstag im südäthiopischen Hawassa Foto: reuters

NAIROBI taz | Die Sidama-Volksgruppe in Äthiopien hat in einem Referendum am vergangenen Donnerstag mit überwältigender Mehrheit für ein eigenes Bundesland gestimmt. Der neue Bundesstaat im Süden des Landes wird der zehnte in der Bundesrepublik Äthiopien.

Das Votum, bei dem nach amtlichen Angaben vom Samstag 98 Prozent für den eigenen Staat stimmten, öffnet die Tür für andere kleine ethnische Gruppen im Vielvölkerstaat Äthiopien, auch größere Autonomie zu fördern. Äthiopiens Verfassung bietet die Möglichkeit dazu.

Mit rund drei Millionen Menschen stellen die Sidama weniger als drei Prozent der äthiopischen Bevölkerung, die aus mehr als 80 Ethnien besteht. Seit der Jungpolitiker Abiy Ahmed im April 2018 Premierminister Äthiopiens wurde, hat er drastische politische Reformen durchgezogen, und in dem sehr streng kontrollierten Staat sind unterdrückte ethnische Loyalitäten in der Politik sichtbarer geworden. Einflussreiche ethnische Führer, die im Gefängnis saßen oder geflohen waren, kamen frei oder kehrten aus dem Exil zurück.

Sie benutzten die neue Freiheit, um mehr Rechte für ihre Ethnien zu fordern. Seit Abiys Amtsübernahme sind durch ethnische Spannungen und Konflikte im ganzen Land zwischen 2 und 3 Millionen Menschen vertrieben worden.

Die Sidama leben im Südwesten Äthiopiens, im an Kenia angrenzenden Bundesland der Südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SSNP), wo etwa 50 Ethnien leben. In Hawassa, die Hauptstadt der Region Sidama, fürchten nun Angehörige anderer Volksgruppen, dass sie vertrieben werden oder ihre Arbeit verlieren, wenn Sidama ein eigener Bundesstaat wird.

Sicherheitskräfte verhinderten bereits am Wochenende Siegesfeiern auf den Straßen nach der Verkündung des Referendumsergebnisses, um Konflikte zu verhindern. Der strömende Regen half dabei.

Ein Dilemma für Hoffnungsträger Abiy Ahmed

Die ethnische Fragmentierung Äthiopiens ist etwas, was Abiy gerade nicht will. Der Politiker feiert zwar die Diversität der Bevölkerung des Landes, aber will eine nationale äthiopische Einheit. Darum unterstützte er am vergangenen Wochenende die Bildung der neuen Äthiopischen Wohlstandspartei (EPP). Das ist eine Fusion von drei der vier ethnisch strukturierten Parteien, die gemeinsam die seit 1991 herrschende Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) bilden.

Die EPRDF, hervorgegangen aus einer Allianz von Guerillabewegungen, hält in allen Institutionen Äthiopiens die Macht. Ethnien, die darin nicht vertreten sind, haben kaum Einfluss. Ihr diktatorischer Ruf steht Abiys Zukunftsplänen im Weg. Aber der historische Kern der EPRDF macht bei der Neugründung nicht mit: die Partei der Tigray-Volksgruppe aus dem Norden des Landes, die unter Premierminister Meles Zenawi von 1995 bis 2012 den größten Einfluss in der EPRDF hielt und damit faktisch Äthiopien regierte.

Sicherheitskräfte in Sidama verhinderten Siegesfeiern, um Konflikte zu verhindern

Mit Abiy, Sohn eines Oromo-Vaters und einer Amhara-Mutter, die zwei größten Ethnien, verloren die Tigrays ihre Macht. Sogar in dem an Eritrea grenzenden Tigray-Bundesstaat gibt es jetzt den Ruf nach Unabhängigkeit. Abiy will Äthiopien mit der EPP nicht nur eine nicht auf Ethnien gegründete politische Einheit geben, sondern auch einen liberaleren Wirtschaftskurs. Bis jetzt lenkt der Staat die Wirtschaft, die seit zehn Jahren ein Wachstum von durchschnittlich 10 Prozent zeigte. In diesem Bereich haben die Tigrays riesigen Einfluss behalten.

Abiys Wunsch nach nationaler Einheit steht im Widerspruch zu den Ambitionen großer Teile der Bevölkerung. Dafür steht das Sidama-Referendum, und schon vor einigen Monaten gab es einen Putschversuch von Amhara-Nationalisten. Es ist nun unklar, was das alles für die im Mai 2020 geplanten Wahlen bedeutet. Sicher ist nur, dass die kommenden Monate für Äthiopien unruhig und entscheidend werden.

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