Rechtsterrorprozess in Frankfurt: „Operation Ranzekacke“
Gefährlich oder nur geltungssüchtig? In Frankfurt verhandelt das Oberlandesgericht gegen den 20-jährigen Marvin E. aus Nordhessen.
Plan von Marvin E. sei es gewesen, in Nordhessen einen Ableger der US-Neonazi-Terrorgruppe „Atomwaffen Division“ zu gründen, um mit Sprengstoffanschlägen einen „Rassenkrieg“ in Deutschland zu entfachen. Dafür habe er gefährliche Sprengbomben gebaut und Waffen gesammelt, so die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift.
Seit seiner Festnahme im September 2021 sitzt der junge Mann in Untersuchungshaft. Am ersten Verhandlungstag am 2. August war lediglich die Anklage verlesen worden. An diesem Freitag kam nun erstmals der Angeklagte selbst zu Wort. Das Bild, das er von sich zeichnet, scheint kaum zu den monströsen Vorwürfen gegen ihn zu passen.
Im viel zu großen roten T-Shirt schlendert der Untersuchungshäftling in den Gerichtssaal, ein schmächtiger junger Mann, der leicht auch als 16-Jähriger durchgehen würde. Sein Gesicht ist das eines „Lausbuben“, offene große Augen, hohe Stirn, kleiner Mund, rote Bäckchen. Seine braunen Haare sind kurz geschoren, den Hinterkopf bedeckt eine blondierte Strähne.
Marvin E. wirkt nur zu Beginn etwas motzig. In die auf ihn gerichteten Objektive von Fotografen und Kameraleuten blickt er eher freundlich und gelassen. Im großen Verhandlungssaal II des Oberlandesgerichts sitzt er immerhin zwei Bundesanwälten, einem Gutachter und den Vertretern der Jugendgerichtshilfe gegenüber. Auf dem Podium nehmen neben den beiden Schöffen gleich drei promovierte BerufsrichterInnen in ihren schwarzen Roben Platz.
Doch der 20-Jährige wirkt angesichts der eindrucksvollen Kulisse nicht befangen. Höflich antwortet er auf die Nachfragen des Gerichts, das ihn kennenlernen will. „Schließlich entscheiden wir über Ihre Zukunft“, hatte ihn der Vorsitzende Richter Christoph Koller erinnert.
Am Handwerklichen interessiert
Rund drei Stunden gibt Marvin E. Auskunft über sein Leben. In der Grundschule muss er eine Klasse wiederholen. Rechtschreiben liegt ihm nicht, Mathe eher. Als er in eine Förderschule wechselt, ist er bereits 12 Jahre alt. Auf einer Berufsfachschule macht er anschließend mit Mühe einen mittelmäßigen Hauptschulabschluss.
Weil der Tischler, bei dem er im Praktikum war, nur einen Azubi unterbringen kann, muss Marvin E. auf den Wunsch-Ausbildungsplatz warten. Den Versuch, in der Wartezeit die Realschule abzuschließen, bricht er ab. Das Handwerkliche liegt ihm.
Seine Freizeit verbringt er vor allem am Computer, bei Ego-Shooter-Spielen. „Leute umnieten, Hauptsache ballern“, beschreibt Marvin E. seine Lieblingsbeschäftigung. Er erlebt sich in seiner Schulzeit eher als Einzelgänger. Gleichwohl spielte er eine Zeit lang in einem Musikzug, erst Klarinette, dann Waldhorn.
Marvin E. beginnt, elektronische Bauteile zusammenzustecken und Platinen zu löten, erwirbt Fähigkeiten, die ihm später beim Bombenbauen geholfen haben dürften.
Bewaffnet mit Schnaps und Bier durchs Unterholz
Die Sätze des 20-Jährigen fallen meist kurz aus, oft weiß er keine Antwort, nicht einmal das Alter seiner beiden Schwestern oder seines Vaters kann er nennen. Immer dann zeigt er ein verlegenes Grinsen. Vor allem immer dann, wenn persönliches zur Sprache kommt, etwa seine spärlichen sexuellen Erfahrungen oder auch die kinderpornografischen Dateien auf seinem Computer und seinem Handy. „Das ist nix für mich“, versichert Marvin E., ein unbekannter Chatpartner habe ihm die inkriminierten Dateien geschickt, er habe nur versäumt, sie zu löschen.
Irgendwann interessiert sich Marvin E. für Militärisches. Mit einem Kumpel beginnt er im Jahr 2020 Survivaltrainings. In Tarnuniformen der Bundeswehr, mit Sturmgepäck, in Knobelbechern, bewaffnet mit Schnaps und Bier, streifen sie durchs Unterholz, drehen leicht alkoholisiert Handy-Videos von ihren Einsätzen. Bei der Vorführung vor Gericht wirken diese Sequenzen aus dem März 2020 eher lächerlich als bedrohlich.
Doch bereits in dieser Zeit muss sich Marvin E. radikalisiert haben. Als er im September 2021 aufgrund eines Hinweises der Bundesbehörden auffliegt und festgenommen wird, finden die Fahnder 13 selbstgebastelte Bomben, die wegen ihres gefährlichen Sprengstoffs und ihrer Splitterladungen „immense Schäden“ hätten auslösen können, heißt es in der Anklage.
In einem mit „Operation Ranzekacke“ überschriebenen Text habe Marvin E. im Juli letzten Jahres seine Pläne dargelegt, mit Anschlägen gegen Moslems, Juden und Ausländer innerhalb von drei Jahren einen Rassenkrieg zu entfachen, ist die Bundesanwaltschaft überzeugt. Der Austausch der weißen Rasse durch Fremde müsse verbunden werden, ist in dem kruden Text unter der merkwürdigen Überschrift zu lesen.
„Wollten Sie angeben“, fragt ihn sein Verteidiger nach der Sichtung eines Posing des jungen Mannes in Uniform. Marvin E. nickt. Es ging ihm wohl auch um Anerkennung und Wahrnehmung.
Kandidatur für die CDU
Beinahe hätte er es immerhin in den Ortsbeirat seiner Heimatgemeinde geschafft. Als Kandidat trat der damals 19-Jährige im Jahr 2021 für die örtliche CDU bei der hessischen Kommunalwahl an. Ein Freund seines Chefs, bei dem er regelmäßig aushalf, zum Beispiel beim Rasenmähen, hatte ihn zu CDU-Veranstaltungen mitgenommen. Auf Platz 14 der Liste kandidierte Marvin E. und bekam immerhin 301 Stimmen. Die CDU verortet er „mehr so in der Mitte, vielleicht ein bisschen rechts, aber auch links“. Beigetreten ist er ihr nicht.
Die Kandidatur des inzwischen Terrorverdächtigen für die hessische Regierungspartei teilten die Behörden erst nach der Bundestagswahl im vergangenen Herbst mit, lange nach seiner Festnahme. Obwohl sie früher davon wussten. Noch immer findet man das fröhliche Gesicht von Marvin E. im Internet. Es ist das Foto, mit dem die örtliche CDU für ihren jungen Kandidaten warb.
Aktuelle Fotos vom Angeklagten müssen inzwischen verpixelt und damit unkenntlich gemacht werden, darauf wies am Freitag erneut der Vorsitzende Richter hin. Das Gericht verhandelt zwar öffentlich, lässt aber ausdrücklich offen, ob es Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anwenden wird.
Anfang September, nach der Sommerpause soll weiter verhandelt werden. Am Ende wird das Gericht entscheiden müssen, ob da ein gefährlicher, zum letzten entschlossener Bombenleger mit rassistischer Gesinnung auf der Anklagebank sitzt oder ein unreifer Hänfling mit Geltungsdrang und verquasten Ideologien im Kopf oder irgendetwas dazwischen. Die Prozesstermine sind bis in den November angesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren