Rechtsdrehend an der Waldorfschule: Das autoritäre Erbe
Die Rendsburger Waldorfschule hatte einen Geschäftsführer, der den Reichsbürgern nahe stand. Ein Einzelfall – oder strukturell bedingt?
„Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Staat, sondern geschäftsführender Justiziar einer Ländersimulation. Es gibt de jure und de facto keinen Staat Bundesrepublik Deutschland“ – so steht es in einem Flugblatt, das der damalige Geschäftsführer der Freien Schule am 26. April 2013 im Lehrerzimmer verteilte. Das zweiseitige Blatt, das der taz vorliegt, stammt von einer „Deutschen Pressestelle für Völker- und Menschenrechte“ und verkündet in der Titelzeile: „Wissen, was wirklich abgeht. Nichts ,Braunes’ – nur offenkundige Fakten“. Zu diesen „Fakten“ zählt: Es gibt keine legitime Regierung im Land, Finanzbehörden und Polizei arbeiten illegal. Typische Argumente der Reichsbürgerbewegung.
„Da muss man doch reagieren, da müssen die Alarmglocken läuten“, sagt Wagner. Aber nach seiner Erinnerung hätten mehrere Mitglieder des Kollegiums das Blatt schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Wagner und eine Gruppe weiterer Lehrkräfte und Eltern forschten nach. Der buchstäblich krönende Abschluss ihrer Suche: Sie entdeckten den Schulangestellten, der seit 2010 im Amt war, auf einem Youtube-Filmchen, in dem ein Reichsbürger zum „König“ gekrönt wurde.
Angst vor Hetze gegen „Verräter“
Wagner schlug Alarm, im September 2014 wurde der Geschäftsführer entlassen. Also alles gut? Nein sagt Wagner. Nein sagen auch andere, die gegenüber der taz zwar viel von „ihrer“ Schule erzählen, aber anonym bleiben wollen – aus „Angst“, es könne „Hetze gegen Verräter“ geben.
„Wir haben alles sauber aufgearbeitet“, sagt dagegen Thomas Felmy, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Waldorfschulen in Schleswig-Holstein. Die LAG und die Bundesvereinigung der Waldorfschulen wurden 2014 zu Hilfe geholt. Ein Interimsvorstand übernahm die Verantwortung im Trägerverein. Die Schule informierte die Eltern, ging an die Öffentlichkeit. Auch fachlich sei das Thema angegangen worden, sagt Felmy. Der Bundesverband stellte eine Broschüre mit Tipps rund um die Reichsbürgerbewegung zusammen, ein Arbeitskreis „Waldorf gegen Rechts“ entstand.
„Das Kollegium in Rendsburg hat sich einmütig gegen den Reichsbürger gestellt, als er enttarnt war“, sagt Otto Ohmsen, der 2015 als Schulleiter geholt wurde. „Mit so einem wollte niemand zusammenarbeiten, das war ganz klar.“
Auch Arfst Wagner sagt: „Die Schule ist nicht rechts.“ Wagner ist Mitglied der Grünen, war eine Zeit lang Landesvorsitzender und Bundestagsabgeordneter und hat seit der Enttarnung des Reichsbürgers in Texten und Interviews Stellung zu der möglichen Verbandelung von Anthroposophie und rechtem Gedankengut bezogen.
Nicht ganz abwegig, schließlich stehen in Steiners Texten einige eindeutig rassistische Zitate, etwa über das „starke Triebleben des Negers“, der „in seinem Inneren von der Sonne gekocht“ werde. Von diesen kruden Ideen sieht Wagner die heutige anthroposophische Bewegung weit entfernt. Auch in Rendsburg sei keine inhaltliche Nähe der handelnden Personen „zur Reichsbürgerei“ vorhanden, wohl aber zu „Reichsbürger-Strukturen“. Er benutzt einen Vergleich: „Wenn jemand Fieber und hohen Blutdruck hat, können diese Symptome auf verschiedene Krankheiten hinweisen.“
Auch Otto Ohmsen sagt, die Probleme hätten nichts mit dem Reichsbürger zu tun. Und auch er denkt bei der Rendsburger Schule an einen Kranken: „Eine Grippe ist da, Mumps kommt dazu. Der Mumps wird behandelt, die Grippe bleibt.“
Heißt: Die Schule war bereits dysfunktional. Und wie ein geschwächter Organismus anfällig für Keime ist, war sie damals anfällig für eine Person mit eigener Agenda. Liegt diese Schwäche im System oder trafen in Rendsburg mehrere Faktoren unglücklich zusammen?
Der Zusatz „frei“, den alle Waldorfschulen im Namen haben, steht für ein Weltbild. „Als Freie Schulen haben die Waldorfschulen die hierarchisch organisierte Außenlenkung der staatlichen Schulen durch eine freiheitliche Verfassung ersetzt“, heißt es auf der Homepage der Bundesvereinigung der Waldorfschulen. „Die Selbstverwaltung erfolgt durch Eltern und Lehrer und stellt ein zukunftsorientiertes soziales Erfahrungsfeld dar.“
Entscheidungen beim Pinkeln
In Rendsburg, so erinnern es Wagner und andere Lehrkräfte, sei aber unter dem Logo der Selbstverwaltung eine hierarchische Struktur entstanden, sogar noch bevor der als Reichsbürger enttarnte Geschäftsführer ins Amt kam. Fragen bis hin zu Personalangelegenheiten seien im kleinsten Kreis – „beim Pinkeln auf dem Klo“ – entschieden worden. Dagegen seien andere angegangen, sie wollten die Selbstverwaltung stärken.
Der neue Geschäftsführer habe anfangs einen guten Eindruck gemacht, „ein charmanter Mann“, heißt es über ihn. „Ein Macher.“ Aber einer, der keinen Wert darauf legte, andere einzubeziehen: „Bei einer Versammlung mit Eltern sagte er sinngemäß: Lasst mich mal machen“, erinnert sich jemand.
Tatsächlich, da sind sich alle Seiten einig, gab es viel zu tun. Die Schule, ein Backsteinbau mit abgerundeten Fensterrahmen liegt in einer ruhigen Nebenstraße. Sie gründete sich 1950 als bundesweit erste Waldorfschule mit Internat und habe damit einen hohen Stellenwert für die Waldorfbewegung, sagt ein Elternteil. Die Schule ist für 750 Kinder ausgelegt, auch einige Nachbarhäuser, die ehemaligen Internatsgebäude, sind im gleichen Stil errichtet, der für die anthroposophische Lehre Rudolfs Steiners typisch ist. Doch die Kinderzahlen sanken bei gleichbleibend großem Kollegium. Die Schule geriet in finanzielle Schieflage.
Der Geschäftsführer verkaufte die Nachbargebäude – ob zu billig, bleibt strittig. Eine weitere Entscheidung betraf das Café, das eine Pächterin auf dem Schulgelände betrieb. Sie erhielt die Kündigung. Grundlos, ungerechtfertigt, fanden Eltern und Kinder: „Das Café war das Herz der Schule.“ Die Bitte, eine Schulversammlung abzuhalten, lehnte der Vorstand des Trägervereins ab. Eltern sammelten Unterschriften, um eine Versammlung zu erzwingen. Am Ende zogen sie vor Gericht und gewannen: Die Versammlung fand statt, eine Mehrheit stimmte für den Erhalt des Cafés.
Dass Eltern gegen die eigene Schule klagen, das sei „schon abenteuerlich“, sagt Thomas Felmy von der LAG der Waldorfschulen. „Vorsichtig gesagt: Es herrscht eine gewisse Streitfähigkeit.“ Er bestätigt Ohmsens Eindruck: Die Wurzeln der Konflikte reichten tiefer, und sie wurden durch den Abgang des Geschäftsführers nicht gekappt.
Wagner, aber auch Eltern kritisieren, die Schule werde heute undemokratischer denn je geführt: „Personen, die eng mit dem Geschäftsführer zusammengearbeitet hatten, sind im Amt geblieben“, so ein Elternteil. Auch andere klagen, der Bund und die LAG hätten „den Kurs des Reichsbürgers nahtlos fortgeführt“.
Verdächtigungen werden laut: „Kurz nachdem der Geschäftsführer enttarnt war, wurde ein Aktenschredder angeschafft, ein Papiercontainer stand auf dem Schulhof“, erinnert sich Arfst Wagner. Kein ungewöhnlicher Akt für eine Schule – aber warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Bis heute „gibt es keine Transparenz, alles wird geheim gehalten“, so ein Elternteil. Es entstehe der Eindruck einer „mittelalterlichen Ständestruktur“, bei der „Eltern nichts gelten, Schüler schon gar nichts“.
Kein Franchise-System
Schulleiter Otto Ohmsen dreht den Spieß um: „Die Rendsburger Schule hat es verschlafen, sich modern aufzustellen.“ Die alte Selbstverwaltungs-Idee in Reinform habe in den Schulen „zu einem Chaos geführt“ – durchaus sympathisch, aber gefährlich. Alle reden mit, keiner trägt Verantwortung, „das war eine Strukturschwäche vieler Waldorfschulen“, sagt Ohmsen. Bereits vor 20 Jahren seien die meisten Vereine umgestellt worden, auch mithilfe von Beratungsfirmen. Aber, so Felmy: „Waldorf ist kein Franchise-System. Jeder Verein entscheidet über seine Struktur allein.“
Heute ist die Schule insolvent. Ein neuer Trägerverein, gebildet aus den Personen des alten Vereins, oder ein Träger von außen könnten übernehmen, aber noch sind Fragen offen. So muss das Land zustimmen, trotz Trägerwechsels weitere Zuschüsse zu zahlen. Gestritten wird um einen Arbeitsrechtsfall. Außerdem geht es um Altschulden, unter anderem für die Pensionen der Lehrkräfte, die seit Jahren nicht komplett gezahlt wurden.
Auch hier lägen die Wurzeln länger zurück als in die Zeit des Reichsbürgers, sagt Felmy. Aber besser gemacht hat der „charmante Macher“ die Sache nicht: Laut dem Bericht einer Unternehmensberatung, der der taz vorliegt, habe ein Mitarbeiter der Rentenkasse den Geschäftsführer im Jahr 2013 auf das Problem hingewiesen und Sonderzahlungen vorgeschlagen. Doch „leider unterblieb das“.
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