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Rechte Verbalien und ihre FolgenDanke, Herr Gauland!

Der AfD-Vizepräsident hat über den Fußballer Jérôme Boateng abgelästert. Jetzt regen sich viele Menschen reflexhaft auf. Das nervt.

Stört das die Nachbarn oder nicht? Foto: dpa

Wenn eine Ärztin einer Patientin mit dem Hammer kurz unters Knie haut, dann streckt sich automatisch das Bein. Eine unwillkürliche, unbewusste Reaktion auf einen Reiz. Im Ernstfall kann das beim Stolpern ein Fallen verhindern. Leider sind nicht alle Reflexe so hilfreich.

Der AfD-Reflex ist so ein Beispiel. Kaum sagen die Rechtspopulist*innen irgendetwas – es ist eigentlich völlig egal, was – man kann darauf wetten: Viele, viele Menschen regen sich auf. Also Hut ab, liebe AfD, niemand beherrscht die Kunst so gut wie ihr, zu hetzen, unter den Top 3 der Medienthemen zu landen, in den Umfragen weiter zu punkten und sich gleichzeitig als Opfer der „Systempresse“ zu stilisieren. Aber das nur am Rande.

Konkret geht es um die jüngsten Äußerungen von AfD-Vizechef Alexander Gauland über den Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng. Gauland sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“

Gut, man kann jetzt zu Recht anmerken, das stimmt so nicht. Denn die Formulierung „die Leute“ ist ziemlich vage. Niemand kann sagen, wen sich die etwa 81,7 Millionen Menschen in Deutschland wirklich als Nachbarn wünschen. Eine aufschlussreiche Studie zu diesem Thema fehlt bislang. Das, was Gauland gesagt hat, ist eine klassische Behauptung; und das, was medial darauf folgt, erwartbar.

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagt: „Ich hätte Jérôme Boateng sehr viel lieber in der Nachbarschaft als Alexander Gauland.“ Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender bei Bayern München, sagt, er sei „ein wunderbarer Mensch und ein vorbildlicher Fußballprofi unseres Vereins“. Wer Twitter, Facebook und Medienberichten folgt, weiß: Viele wünschen sich Boateng nun als Nachbarn. Obwohl ja kaum jemand weiß, wie Boateng nun wirklich als Nachbar ist. Wer weiß schon, ob er den Müll ordentlich trennt. Oder ob er Eier verschenkt, wenn sie der Nachbarin fehlen.

Zur EM wird das Integrationsmärchen erzählt

Niemand möchte Rassist sein – auch die AfD nicht. Und doch wissen alle automatisch, was eigentlich mit „Boateng“ in Gaulands Satz gemeint ist: Boateng = N-Wort = Ausländer = Problem. Ja, das ist rassistisch. Die Gegenstrategie zu Gauland lautet: Wir behaupten das Gegenteil. Also Boateng ist zwar ein N-Wort = aber er ist wunderbar = total integriert = und hat sogar einen WM-Titel für Deutschland gewonnen.

Diese Erzählung ist leider auch rassistisch. Und dazu auch unehrlich. Denn zu behaupten, keiner hätte ein Problem mit „Boateng“ im Gaulandschen Sinne, ist eben nur die halbe Wahrheit. Deswegen wirkt diese ganze Solidaritätsnummer so heuchlerisch.

Boateng ist ein Fußballprofi, ein Promi! Wer hätte nicht gern etwas von seinem Glamour ab? Aber was passiert, wenn alle neu bekennenden Boateng-Fans plötzlich in einem Haus leben müssten, wo alle Klingelschildernamen viele komische Buchstaben wie ö, ü und ô enthalten? Und wo ziehen die vielen Antirassisten hin, wenn ihre Kinder in die Schule müssen? Eben. Auch im grün-bürgerlichen Milieu hört man: „Der Anton kann da nicht zur Schule, da sind 60 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund.“ Übersetzt: 60 Prozent Probleme.

Wo ziehen die vielen Antirassisten hin, wenn ihre Kinder in die Schule müssen? Eben

Die Erfahrung, als fremd markiert zu werden, ist in diesem Land leider Teil nichtweißer Identität. Gauland hat also nur ausgesprochen, was Schwarze, Nichtweiße, Ausländer, Kanaken, Menschen of Color (nennt es doch, wie ihr wollt!) aus ihrem Alltag kennen. Auch wenn Gauland versucht, seine Aussage in bekannter AfD-Manier zu relativieren, trotzdem, danke für diese Ehrlichkeit.

Pünktlich zur EM wird das Integrationsmärchen mit Nationalflaggenkitsch erzählt. Und doch sind selbst die Özils und Boatengs im Jahr 2016 mitnichten mit einer gewissen Normalität auf Schokoladenpackungen zu finden. Alles ein Indikator dafür, wie uncool und rückwärtsgewandt Deutschland in puncto Integration ist. Reflexhaftes AfD-Bashing wird das Land jedenfalls nicht vorm Fallen retten. Hilfreicher wäre ein Reflex, sich bei jedem AfD-Spruch erst an die eigene Nase zu fassen.

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23 Kommentare

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  • Ja, wie hätten wir's denn gern? Wenn sich keiner reflexhaft oder sonstwie aufregen würde... Was würden sich denn Medien oder Rassisten denken? Es gibt viel zu Viele, die sich einbilden zu wissen, was "die anderen" denken. Ich finde, da darf man sich ruhig ein wenig erleichtert erlauben zu denken: Gut dass auch andere sich mit mir laut aufregen über solchen Rassismus! Und dass ich dagegen bin erlaube ich mir zu sagen, egal in welcher Schublade Sie oder sonstwer glauben, mich abladen zu können.

    • @noevil:

      Davon abgesehen: Die AfD verschwindet nicht von alleine, wenn man Rassismus toleriert.

  • Danke ! Volltreffer , Frau Kalarickal !

  • 2G
    2730 (Profil gelöscht)

    Es ist schon amüsant, die antrainierten Reflexe bei der Arbeit zu beobachten: "Rassisten sind immer die anderen." (So denkt möglicherweise sogar Gauland.)

    Nimmt man jedoch nicht das Glaubensbekenntnis: "Ich glaube, dass ich kein Rassist bin", sondern das beobachtbare Tun als Bewertungsgrundlage (z.B. auf welche Schulen die Kinder geschickt werden), dann sieht man, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben...

    • @2730 (Profil gelöscht):

      Da haben Sie aber selbst einen impliziten Rassimus versteckt, indem Sie nämlich suggerieren, dass Schulen mit hohen "Ausländer"anteil nicht attraktiv seien. Das liegt aber nicht an den "Ausländern", sondern an der modernen Pädagogik, die keinerlei Autorität mehr ausübt.

  • "....danke für diese Ehrlichkeit."

     

    Ja, ehrlich. Wäre nur schön gewesen, wenn er den Rassismus nicht nur ehrlich benannt, sondern sich auch gleich zu seinem eigenen bekannt hätte. Denn ehrlich sind in dieser Hinsicht auch andere: Antifa und Linke. Nur beziehen die auch ganz klar Position GEGEN Rassimus und darauf kommt´s an, liebe Frau KALARICKAL.

  • "Der AfD-Reflex ist so ein Beispiel. Kaum sagen die Rechtspopulist*innen irgendetwas – es ist eigentlich völlig egal, was – man kann darauf wetten: Viele, viele Menschen regen sich auf."

     

    Es geht aber, liebe Frau KALARICKAL, nicht um die AfD, sondern um die Inhalte, die sie vertritt.

     

    Rassismus bleibt Rassismus und muß attackiert werden, egal, wer ihn wann, wo und wie oft äußert.

     

    Besser, die Gesellschaft gewöhnt sich wieder daran, dass rechte Gesinnung hierzulande Gegenwind bekommt.

  • Sachlicher und differenzierter Artikel!Wie eine Meute haben sich die Entrüstungsprofis vom Regierungssprecher bis zu den Regionalzeitungen auf Gauland gestürzt. Seine Kritik richtet sich nicht gegen Herrn Boateng, von dem er offenbar nur weiß, dass er berühmt und schwarz ist, sondern gegen uns, die wir die Nachbarn darnach beurteilen, ob sie nett und verträglich sind, nicht woher sie kommen oder wie sie heißen.

  • Völliger Blödsinn, dieser Artikel. Gauland ist Rassist, die AfD ist rassistisch, und wenn ein paar Übereifrige statt des Wertes des Menschen an sich seine Verdienste aufzählen, dann ist das zwar nicht besonders gut, aber immerhin der Versuch, den Rassisten etwas entgegenzusetzen. Schön, wie hier exakt Herrn Gaulands "Was hab ich denn gesagt?"-Masche unterstützt wird. Wider besseres Wissen, wie ich hoffe und befürchte. Der Reflex nach dem Reflex... Es ist zurzeit einfach häufig nötig, die ganze Scheiße zu diskutieren. Schlimm genug, aber lässiges Schweigen ist eine stärkere Unterstützung als die tausendste Diskussion.

    • @Karl Kraus:

      Genau! Da haben Sie mir mal aus der Seele gesprochen, besonders mit dem letzten Satz!

  • Kein schlechter Beitrag. Mehr Bereitschaft zur Differenzierung und Selbstreflexion in allen politischen Lagern würde endlich einen vernünftigen Diskurs ermöglichen. Davon sind wir aber noch weit entfernt.

  • Und in wie fern greifen Sie sich da bereits an die eigene Nase, Frau Karla... Kala... Jasmin eben.

     

    Spaß beiseite: beim Nachbarn kennt der Deutsche kein Pardon und macht vor niemandem halt. Da schmeißen sich auch Arier untereinander ganz schnell die Hundehaufen über den Zaun zurück oder lassen die Waschmaschine nachts laufen. Ich finde es am heuchlerischsten von allem, diese vielleicht grundlegendste aller deutschen Eigenschaften an irgendeinem sozio-kuluturellen Hintergrund des Nachbarns ausmachen zu wollen. Das ist Landesverrat, Herr Gauland!

  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    "wem die Integration gelungen ist, der ist oft besonders unerbittlich darin, die Integration der Einwanderer einzufordern oder Einwanderung per se abzulehnen."

     

    -das ist halt letztlich das selbe phänomen wie bei den neureichen, die armut mehr verachten als diejenigen die schon über mehrere generationen reich sind.das ist zumindest mein eindruck. abgrenzung nach unten aus angst darüber, das man selbst wieder abrutschen könnte.

     

    " Ausgenommen scheinen mir da allein jene liberal erzogenen jungen und erfolgreichen Menschen, die nichthierarchischen Kontakt mit Fremden von früh auf gewohnt sind"

     

    -erfolgreich muss man dafür glaube ich nicht sein, regelmäßiger kontakt reicht aus

    • 6G
      6474 (Profil gelöscht)
      @6474 (Profil gelöscht):

      @ ATALAYA

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Entgegen gegenteiliger Beteuerungen vieler scheint der Herr Gauland nicht ganz unrecht damit zu haben, dass viele Menschen lieber "Bio-Deutsche" in ihrem Umfeld wohnen hätten als Fremde.

     

    Als wir vor über einen Vierteljahrhundert das "Glück" hatten, als Studenten eine Wohnung zu bekommen, sagte uns die Vermieterin auf dem Weg zu selbiger: "das ist ein ordentliches Haus: keine Ausländer, keine Kinder". Wir haben ihr beides im Überfluss beschert und damit die Scham darüber ein wenig gelindert, unseren Mund gehalten zu haben, statt das Auto unter Protest zu verlassen.

     

    Unsere jetzigen Nachbarn mögen offenbar einen afrikanischen Postboten nicht, der m.E. ein Muster an Höflichkeit und Genauigkeit ist. Die Nachbarn unterstellen ihm, er sei für alles verantwortlich, was bei der Zustellung nicht funktioniert, auch wenn er keinen Dienst hat.

     

    Wir haben auch Abkömmlinge von Migranten in der Nachbarschaft. Denen kann es auch nicht "deutsch" genug zugehen, obwohl sie wiederum dem ein oder anderen Nachbarn auch noch nicht deutsch genug sind. Das scheint mir überhaupt eine Konstante zu sein: wem die Integration gelungen ist, der ist oft besonders unerbittlich darin, die Integration der Einwanderer einzufordern oder Einwanderung per se abzulehnen.

     

    Fremdenfeindlichkeit betrifft m.E. fast alle gesellschaftlichen Schichten. Ausgenommen scheinen mir da allein jene liberal erzogenen jungen und erfolgreichen Menschen, die nichthierarchischen Kontakt mit Fremden von früh auf gewohnt sind, etwa durch Kinderkrippen und Kindergärten.

  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    treffender artikel zum thema. wäre boateng nämlich nur ein fußballspieler der kreisklasse, dann sähe die ganze sache wieder anders aus.

  • Kathrin Göring-Eckardt als Nachbarin, ihre Kumpels aus der Atlantik-Brücke dazu? Oder die fromme Führungsriege der Evangelischen Kirche von Deutschland?

     

    "Hilfreicher wäre ein Reflex, sich bei jedem AfD-Spruch erst an die eigene Nase zu fassen."

     

    So etwa dachte ich, als ich die nachricht über Alexander Gaulandt las. Hier erwähne ich bewußt nicht, daß ich der AfD nicht nahestehe ;-)

  • Einspruch, Frau Kalarickal! Bei solch rassistischen Sprüchen fasse ich mir nicht an die eigene Nase. Bei aller eigenen Unzulänglichkeit (jede/r kann immer an sich arbeiten) ist es m. M. n. nicht angesagt, sich das Themensetting von der AfD vorgeben zu lassen. Aus meiner Sicht ist der "Denkfehler" folgender Teilsatz: "Also Boateng ist zwar ein N-Wort = ..." - ist es für mich nicht! Es wurde versucht, einen Deutschen wegen seiner nichtweißen Hautfarbe zu auszugrenzen, mit dem Ziel, alle Deutschen (und Migranten) mit nichtweißer Hautfarbe auszugrenzen. Das widerspricht meinem Werte- und Gesellschaftsverständnis, und deshalb widerspreche ich "reflexhaft" und wünsche ihn mir symbolisch als Nachbarn. Und das hat nichts mit Mülltrennen oder Eier-Verschenken zu tun, weil es hier um die Grundlagen geht. Beste Grüße!

    • @Klaus Bollino:

      Sehe ich genauso.

       

      Außerdem kann ich nicht mehr sehen, wie die AFDler, Pegiden, Nazis und sonstigen Rassisten aus allen europäischen Ländern die Social-Media-Debatten zu bestimmten Themen dominieren. Wenn ich Youtube-Kommentare lese, möchte ich regelmäßig brechen. Es melden sich ja wie so oft hauptsächlich die Extremisten online zu Wort. Es wird Zeit, dass Menschen, die keine radikale Meinung haben, diese in die Welt schreien. Dass die 85% Nicht-AfD-Wähler sich zu Wort melden und sagen "Wir sind 'die Leute'!". Darum habe ich auch #Boatengsnachbar getwittert. Um zu sagen "Die Leute" wollen das so nicht. Ich bin auch "die Leute". Ihr sprecht noch lange nicht für alle, auch wenn das euer Trick ist. Das, und um den Menschen, die sie diskriminieren, das Signal zu senden: Es gibt noch andere Meinungen in Deutschland, es ist noch nicht Zeit, ins Exil zu gehen, nicht überall steht morgen der Mob vor eurer Tür.

  • Und wieder schafft die AfD tagelang Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

  • Exakt! Ich kann jetzt nicht sagen ob Gauland das bewusst oder aus purer Dummheit gesagt hat, ehrlicher als einiges was man sonst so von Politikern hört.

    Auch schön gesagt: "Wenn Menschen mit Migationshintergrund für das Land etwas ausergewöhnliches leisten, dann sind sie die Musterausländer"

    Bescheidene Frage: Wenn jemand sich bis hier her schlepp, alles verloren hat, ihm die Bomben daheim um die Ohren gefolgen sind und er seine halbe Familie verloren hat, denn 24 Monate in Horror im Asylbewohnerheim überlebt hat, dann eine Ausbildung macht, Deutschland lernt, versucht zu überleben und er sich und seine Familie hier gut überwasser hält, ist das nicht auch eine ausergewöhnliche Leistung??

    • @Mr Jago:

      Natürlich ist es eine "außergewöhnliche Leistung", wenn einer, dem das Leben und die Politik übel mitgespielt haben, es schafft, optimistisch, integrationswillig und leistungsbereit zu bleiben. Leider ist es zugleich eine Leistung, die diesen Menschen jedem, der nichts derartiges vorzuweisen, aber gelernt hat, dass Versager bestraft werden müssen, suspekt macht. Könnte ja sein, dieser Mensch, der außergewöhnliches zu leisten in der Lage ist, nimmt einem etwas weg...

      • @mowgli:

        In der Tat! Leider kann man diesen Leuten die Erfahrungen von Flüchtlingen nicht implantieren, vielleicht würde diese dann das aus einer anderen Brille sehen.

        Verdammt traurig!