Reality-TV in Brasilien: Verfolgungsjagd und Schießereien
In Brasilien sind Sendungen populär, die brutale Polizeieinsätze zeigen. Ein Ausdruck der Stimmung unter Präsident Jair Bolsonaro.
Ein schwarzes Auto steht an einer Ampel, als sich zwei Personen nähern. Kurze Zeit später zieht einer der beiden eine Pistole, feuert zweimal in Richtung eines Mannes, der mit gezogener Waffe auf das Auto zu rennt. Die Bilder des gescheiterten Überfalls in São Paulo wurden von einer Überwachungskamera aufgezeichnet und am 6. Januar von der Sendung „Cidade Alerta“ (Stadt in Alarm) ausgestrahlt.
Ein Moderator schildert in dem mit dramatischer Musik unterlegten Clip den Kontext: Die beiden Kriminellen seien von einem Zivilpolizisten überrascht worden, der zufällig vor Ort war. Einer von ihnen starb bei dem Schusswechsel, was der Moderator mit einem zynischen Lachen quittiert.
Jeden Tag laufen auf mehreren brasilianischen Fernsehsendern solche Programme. Die sogenannten „Blut-Tropf-Sendungen“ gehören zu den erfolgreichsten TV-Shows in Brasilien und die Moderatoren sind bekannt wie Popstars. Die Bilder sind fast immer die gleichen: Exklusive Aufnahmen von brutalen Kriminalfällen, trauernde Angehörige, in Polizeiwachen vorgeführte Verhaftete. Oft sind die „Journalist*innen“ live bei Verfolgungsjagden oder Schießereien dabei.
Laut Augusto Jobim, Professor für Kriminalwissenschaften an der Päpstlichen Katholischen Universität in Porto Alegre, sind die Programme sowohl Reflex einer militarisierten Gesellschaft als auch Ausdruck von christlichem Fundamentalismus. „Die Sendungen inszenieren einen Kampf von Gut gegen Böse. Den Polizisten wird eine heilige Mission zugeschrieben und die Gewalt bekommt einen reinigenden Charakter.“
Zivilisationsbruch zur Primetime
Zusammen mit einer Kollegin hat Jobim Hunderte Sendungen analysiert: Aufrufe zu Gewalt, Missachtung der Unschuldsvermutung, schwere Verstöße gegen Persönlichkeitsrechte – die Liste der Verbrechen ist lang. Der landesweit bekannte Moderator Sikera Júnior hat gar ein eigenes Lied („Er ist gestorben, er ist gestorben. Sein Problem, besser er als ich“) und einen Freudentanz für den Fall, dass mutmaßliche Verbrecher getötet werden.
In einem Interview mit der taz bezeichnete der Philosoph Silvio Almeida die Sendung als „Zivilisationsbruch zur besten Sendezeit“. Und laut Jobim seien diese Programme sowohl Folge als auch Auslöser von Gewalt.
Studien zeigen, dass fast 60 Prozent der Brasilianer*innen der Aussage zustimmen, dass nur ein toter Verbrecher ein guter Verbrecher sei. Solche Einstellungen haben auch dazu beigetragen, dass ein Mann zum Präsidenten gewählt werden konnte, der seine politische Karriere vor drei Jahrzehnten als Lobbyist für die Polizei begann: Jair Bolsonaro. Der Ex-Militär stieß im gewaltgeplagten Brasilien mit seinen Forderungen nach einer harten Hand auf viele offene Ohren. Seit seinem Amtsantritt hat die tödliche Polizeigewalt Rekordwerte erreicht.
Im Dezember 2020 versprach der Präsident, eine Gesetzesinitiative zur Straffreiheit von tötenden Polizisten*innen auf die Agenda zu setzen. Unterstützung wird er von den einflussreichen Polizei-Sendungen bekommen, die im Wahlkampf offen Werbung für Bolsonaro machten.
Petition gegen die Shows
Doch nicht alle Brasilianer*innen sind begeistert: Im Juli 2020 wurde eine Petition mit mehr als 20.000 Unterschriften ungterstützt, um die sensationalistischen Shows tagsüber aus dem Programm zu verbannen. Der Vorschlag könnte bald in einer Senatsanhörung diskutiert werden. In Uruguay gelang genau das mit einem 2015 in Kraft getretenen Mediengesetz. „Das wäre ein erster Schritt, aber eine wirkliche Veränderung werden wir nur durch eine Demokratisierung der Medien erreichen“, sagt Jobim.
Seit einiger Zeit freuen sich zudem Polizeiprogramme im Internet großer Beliebtheit. In den selbstproduzierten Videos ziehen Polizisten los, filmen ihre Einsätze und laden sie anschließend bei Youtube hoch. Der Kanal des rechtsradikalen Polizisten und Bolsonaro-Unterstützers Gabriel Monteiro aus Rio de Janeiro hat fast 3 Millionen Abonnent*innen. „Das Medium ist ein anderes“, sagt Kriminalforscher Jobim. „Doch es wird die gleiche menschenverachtende Bestrafungslogik wie im Fernsehen propagiert.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste