piwik no script img

Re-Release von Nanci Griffith-AlbenMehr als das große Ich

Das Boxset „Working in Corners“ widmet sich dem Erbe der 2021 gestorbenen US-Countrysängerin Nanci Griffith. Ihr Werk wird so dem Vergessen entrissen.

Die Sängerin Nanci Griffith bei einem Konzert im schottischen Perth 2008 Foto: imago

Ein referenzielles Wunderland. Taylor Swifts aktueller Konzertfilm „The Eras Tour“ schwelgt in Anspielungen. Da erleben wir die US-Popsängerin zum Song „Tolerate It“ in einer Szenerie mit übergroßem Esstisch, die wachsende Kluft zwischen einem Paar symbolisierend.

Offensichtlich ist das entliehen aus Orson Welles Klassiker „Citizen Kane“. Ein Song aus der Coronaphase, in der Swift sich auf ihre Verwurzelung im Countrygenre zurückbesann. Wie geht das mit filmhistorischen Zitaten zusammen? Ist Country nicht entweder strassbesetzter Glitzer mit Cowboyhut oder totgeweihte, alte Männer im Ledermantel? – Nein.

Alben und Bücher

Nanci Griffith: „Working in Corners“ (Craft Recordings/MCA)

Verschiedene: „More than a Whisper: Celebrating the Music of Nanci Griffith“ (Rounder)

Nanci Griffith: „Two of a Kind Heart“, JRP Books, Sharon/Vermont 2023, 356 Seiten, ca. 25 Euro

Es war die 2021 im Alter von 68 Jahren verstorbene US-Singer-Songwriterin Nanci Griffith, die das Zitat in den Country brachte. Dabei war es die Intensität des Ichs, mit dem Bob Dylan die Folk-Musik der 1960er umkrempelte, was dann auch die junge Nanci zur Gitarre greifen ließ.

Bald wies der Teen mit dem zarten Stummfilmgesicht in Clubs der texanischen Country-Folk-Szene sein Publikum zurecht, gefälligst nicht zu quatschen, und das taten sie dann auch nicht mehr, denn Griffiths Songs hatten Tiefe und Klasse.

Vor dem Alter gefeit

Gleich Taylor Swift, die in ihrem Erscheinen mal an Disneys Alice, mal an Lauren Bacall in einem Film noir erinnert, schien Griffith vor dem Altern gefeit. Wie ein Mädchen aus dem 19. Jahrhundert blickt sie 1978 von der Rückseite ihres Debütalbums und war doch bereits Mitte 20. Während ihre Musik vom Folk über Bluegrass zum Country und in den Pop mündet, war die Künstlerin in mannigfaltigen, sorgfältig selbstinszenierten Rollen zu erleben.

Vor kurzem erschien das Boxset „Working in Corners“, das ihre ersten vier Alben wieder erhältlich macht. Auf dem Cover des Drittlings „Once in a Very Blue Moon“ sitzt Griffith verklärt in einem Drive-in, auf den Liebsten wartend, der nicht kommen wird.

Den gleichnamigen Song mit seiner herzerweichenden Bridge könnte auch Swift singen. Doch Griffith beherrschte mehr als das große Ich: „Love at the Five and Dime“ erzählt vom jungen Paar, welches die bürgerliche Existenz für ein unstetes Musikerleben aufgibt. Der Aufbruch aus dem Ländlichen in die Boheme war eines von Griffiths zentralen Themen.

Auf der Rückseite des Albums, welches besagten Song enthält, posiert sie, kokett mit Larry McMurtrys Roman „Lonesome Dove“. Ja, Einsamkeit schien die Griffith stets zu begleiten. Dabei war sie von Musikerfreunden umgeben. Einige versammelten sich für das ebenfalls unlängst erschiene Tributalbum „More Than a Whisper: Celebrating the Music of Nanci Griffith“.

Wir hören liebevolle Verbeugungen von Emmylou Harris, John Prine und Steve Earle. Mary Gauthier veröffentlichte neben ihrem Songbeitrag online einen Text. Er berichtet wie Griffiths Worte „There’s a light beyond these woods, Mary Margaret. Do you think that we will go there and see what makes it shine?“ sie als junge Außenseiterin mit Drogenproblemen profund berührten, nennt den Song eine aufrichtige, vom „Born to run“-Pathos befreite Vision des Aufbruchs. Doch an eine Coverversion von „Mary Margaret“ wagte sich weder sie noch eine der anderen.

Erfinderin des postmodernen Zitatpops

Was wäre auch die Version wert, die man endlich ohne Tränen über die Lippen brächte? Träume und die Härten des Lebens waren Griffiths Metier. Ihre Sommerkleider mit Laura-Ashley-Charme, weiße Strümpfe, Schnürstiefeletten und Ansteckbuttons mit politischen Slogans inspirierten den Look junger Frauen, die Bücher, deren Umschläge sie auf Plattenhüllen in Szene setzte, wurden gekauft und gelesen.

Griffith erfand den postmodernen Zitatpop für die Country-Welt, gleich Madonna prägte sie ihr eigenes Image. Ihre melodisch reichen Songs waren keinesfalls im Retro verhaftet, sondern strebten in die Zukunft. Sie komponierte diese ohne studierte Profis an ihrer Seite, die ihr den Weg zum Massenerfolg gebahnt hätten. In ihren Liedern über Trennungen oder über das Überleben der Ernteausfälle in der „Dust Bowl“ der 1930er Jahre lebt weit mehr als das selbstbezogene Ich, welches Taylor Swift geblieben ist, nebst einer Musik, die keine Zukunft mehr sucht und sich nirgends abarbeitet.

Ein in den 1990ern verfasster Roman Griffiths „Two of a Kind Heart“ erschien nun ebenfalls erstmals. Er legt behutsam einen Rahmen um viele ihrer Songs, lässt sie in einem Gesamtkunstwerk zusammenfinden, ein gestaltetes Leben, die Selbstbefreiung stiller Außenseiter. Und ja, vielleicht ist es das: Wo Nanci Griffith zu jenen sprach, die nicht passen, richtet sich Taylor Swift heute an jene, die sich sorgen, nicht zu passen. Cool war nur eine von beiden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!