Eastern-Dada auf dem Jazzfest Berlin: Country aus der Hohen Tatra

Macio Moretti legt sich musikalisch nicht fest, bleibt offen für verschiedenste Einflüsse. Zu hören ist der Drummer aus Polen beim Berliner Jazzfest.

Drei Männer und drei Frauen verschiedenen Alters posieren für ein Gruppenfoto

Macio Moretti hier ganz links mit der Band von Kaja Draksler Foto: Ziga Koritnik

Es ist einer dieser entspannten Herbstnachmittage, an denen die Zeit sich zu verlangsamen scheint. Eine Reihe von Grünpflanzen rankt sich ins Bild, daneben, auf einem Bürodrehstuhl, sitzt Maciej Moruś, Künstlername Macio Moretti, Schlagzeuger und eine der Schlüsselfiguren der polnischen Independentszene, in seinem Studio außerhalb von Warschau.

Musikalisch sozialisiert in Punk- und Metalbands, spielte der 1975 geborene und in Warschau aufgewachsene Künstler bereits in den 1990er Jahren im Umfeld der Yass-Szene, der wichtigsten subkulturellen Bewegung im postkommunistischen Polen. Yass ist ein Amalgam aus Elementen von Freejazz, Rock, Punk und Folkmusic.

2004 war er Mitgründer des einflussreichen polnischen Indie-Labels Lado ABC; für seine eigenen Bandprojekte erhielt er den renommierten Musikpreis „Fryderyk“ und den „Paszport Polityki“, den bedeutendsten Kulturpreis Polens. Im Juni erschien beim polnischen Label Don’t Sit On My Vinyl ein Duo-Album mit dem US-Gitarristen Fred Frith. Bei YouTube ist mit „I Run On Sugar And Internet“ seine neue Soloaufnahme mit Schlagzeug, Synthesizer und Samples abrufbar.

Beim Berliner Jazz Fest tritt Macio Moretti gemeinsam mit dem Sextett der slowenischen Pianistin Kaja Draksler auf. Mit dabei auch Mitglieder der Amsterdamer Postpunk-Band The Ex und eine präparierte Drehorgel. Im Grunde, so Moretti, sei er auf dem Weg zum Flughafen, zu einem Konzert in Japan. Seit dem Abflauen von Covid-19 sind endlich wieder Auftritte und Tourneen angelaufen.

Und jetzt das überraschende Ergebnis der Parlamentswahlen! Der Drummer dreht sich freudig auf seinem Drehstuhl. Noch nie habe es eine so hohe Wahlbeteiligung gegeben, über 74 Prozent. Viele junge Menschen haben ihre Stimmen abgegeben, aber auch viele ältere Menschen sind erstmals überhaupt zu den Wahlurnen gegangen.

Macio Moretti live am 4. November zusammen mit Kaja Draksler beim Jazzfest Berlin im Haus der Berliner Festspiele

Ganz Polen habe das Gefühl gehabt, dass diese Wahl tatsächlich etwas verändert. Solche Warteschlangen vor den Wahllokalen habe er noch nie erlebt, sagt Moretti. Es herrsche eine elektrisierte Stimmung, wie zuletzt 1989 nach Öffnung der Grenzen und dem Sieg von Solidarność. Alle sind hoffnungsvoll und euphorisch.

Nach Wahlen in Polen: Hoffnung auch für Nachbarländer

Diesmal sei es geglückt, dass die Opposition sich gemeinsam gegen die PiS gestellt habe. Mit der Verschärfung der Abtreibungsgesetze und Gleichschaltung der öffentlichen Fernseh- und Radiosender sei einfach ein Punkt des „Zuviel“ erreicht gewesen. Er hoffe, dies könne auch ein Lichtblick und Hoffnungsschimmer für Ungarn sein und für Nachbarländer wie Belarus.

Angefangen hat Macio Moretti zunächst mit dem Bass und manchmal hat er einfach so am Schlagzeug herumgewirbelt, jetzt ist es umgekehrt. Von Punk und Metal aus hat er sich dem Jazz angenähert, auch der polnischen Jazzlegende Krzysztof Komeda – den bereits 1969 verstorbenen Pianisten verehrt er sehr. Nach der politischen Wende 1989 stand Jazz zunächst symbolisch für die alten Strukturen des Kommunismus, von denen er sich abgrenzen musste. Dabei geholfen haben Moretti schon immer die eher obskuren Dinge: Bis heute pflegt er einen dadaistischen Zugang zur Musik.

So ist auch seine Hauptband Mitch & Mitch entstanden: Zunächst als Duo gegründet, spielte man Fake-Countrymusik mit Songs über die Hohe Tatra und Cowboysongs aus den Beskiden, gesungen in Fake-Englisch. Auch das polnische Publikum sprach man grundsätzlich nur auf Englisch an. Die Band entstand 2002, als Moretti für das Kunstprojekt eines Freundes eine Punkversion des Sambaklassikers „Desafinado“ des Brasilianers Antônio Carlos Jobim einspielen sollte. Dazu kam es nicht, aber sie haben angefangen, Faux-Country-Songs zu spielen und hatten dabei so viel Spaß, dass innerhalb einer Woche ihr Debütalbum entstand: „Country und Eastern“.

Mittlerweile sind Jazz, Library Music und Soundtracks aus den 50er bis 70er Jahren dazugekommen und die Band ist zu einem Nonett angewachsen. Library Music war reine Auftrags- und Produktionsmusik, die etwa für Werbespots und als Hintergrundmusik verwendet wurde: Fahrstuhlmusik oder Musik für Supermärkte. Moretti schweben in dieser Richtung eine Menge „auch subversiver“ Ideen vor. Er hat mit LXMP ein Schlagzeug-Elektronik-Duo mit verschiedenen Duo-Partner*innen, und die Band Baaba, mit der er eine Mischung aus Soul, Disco und Metal spielt.

Jeden Sommer veranstaltet er mit Freunden ein Festival in Jazdów, einem alternativen Viertel in Warschau, wo sich vor allem junge Leute zum gemeinsamen Gärtnern und Musizieren treffen. Dieses Jahr seien so viele Leute gekommen, um auf dem Rasen liegend die Musik zu hören, das gäbe ihm Hoffnung! Musik, so Moretti, begreife er schon immer als soziale Sache. Er ist ein Musiker, der von vielen anderen sozialisiert sei und liebe einfach die Idee, zusammen abzuhängen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.