Razzien gegen „Clankriminalität“: Diskriminiert statt kriminell
Immer wieder finden in Berlin-Neukölln Razzien in migrantischen Läden statt. Die Landesantidiskriminierungsstelle sieht Handlungsbedarf.
![Ein Polizist steht vor einer Shish-Bar in Berlin. Ein Polizist steht vor einer Shish-Bar in Berlin.](https://taz.de/picture/6209754/14/218991624-1.jpeg)
Um auf das Problem aufmerksam zu machen, haben Ray H. und seine Kolleg*innen am Donnerstagnachmittag die Noch-Staatssekretärin für Vielfalt und Antidiskriminierung, Saraya Gomis, und die Leiterin der Landes-Ombudsstelle gegen Diskriminierung, Doris Liebscher, in die Shishabar eingeladen. Auch der Linke-Abgeordnete Niklas Schrader und Basem Saed von der Initiative „Unsere Stimme zählt“ sind gekommen.
Nun sitzt Ray H. da und erzählt, wie die bis zu fünf Razzien pro Jahr sein Leben verändert haben. „Leute werden schikaniert und beleidigt. Andere Leute kommen jetzt kaum noch“, sagt er aufgebracht. „Einmal ist eine Kundin kollabiert, sie hat gezittert vor Angst!“
Bereits vor gut einem Jahr haben sich 24 Neuköllner Geschäftsleute und fünf Initiativen in einem offenen Brief an Innensenatorin Iris Spranger, den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (beide SPD) sowie weitere verantwortliche Politiker*innen und Behörden gewandt. Darin beklagen sie die häufigen, aus ihrer Sicht schikanösen und unverhältnismäßigen Kontrollen als existenzbedrohend.
Ein Fall für die Antidiskriminierungsstelle
Saraya Gomis bemüht sich, den Betroffenen Mut zu machen, und verweist sie an die Landesantidiskriminierungsstelle. „Wenn die Ombudsstelle sagt, es gibt 200 Beschwerden wegen Razzien in Shishabars, dann passiert vielleicht was.“
Basem Saed, „Unsere Stimme zählt“
Mit der Presse will kaum eine*r der betroffenen Gewerbetreibenden sprechen. Zu negativ, zu einseitig war die Berichterstattung. Shishabars seien „Wohnzimmer der Clans“, heißt es von den künftigen Regierungsparteien CDU und SPD, deren Vertreter*innen sich bei den Razzien gerne auch mal vor der eingeweihten Presse präsentieren.
Eingeführt wurden die „Razzien gegen die Clankriminalität“ 2017 von der damaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisterin und heutigen SPD-Vorsitzenden Franziska Giffey. Inzwischen werden sie von ihrem Nachfolger Martin Hikel fortgesetzt und finden auch in anderen Bezirken statt. Hikel und die Polizei werten die Razzien als erfolgreich im Kampf gegen „Clankriminalität“ – ohne diese Erfolge jedoch genau belegen zu können.
Die Kriminalstatistik der Polizei nennt für 2021 849 im Zusammenhang mit „Clankriminalität“ registrierte Straftaten. Das sind nicht einmal 0,2 Prozent aller in Berlin registrierten Straftaten, Verkehrsdelikte ausgenommen. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht das jedoch ganz anders aus.
Großer Aufwand mit wenig Nutzen
Dass die mit großem Aufwand betriebenen Razzien wenig effizient sind, zeigt das polizeiliche „Lagebild Clankriminalität“. So fielen bei einem Einsatz im Juli 2021, bei dem die Polizei zusammen mit den Bezirksämtern Neukölln und Pankow, dem Finanzamt Wedding und dem Hauptzollamt Berlin insgesamt 19 Geschäfte kontrollierte sowie „Verkehrssonderkontrollen“ durchführte, insgesamt 1.074 Einsatzstunden an. Das Ergebnis des laut Polizei „erfolgreichen“ Einsatzes: 8 Strafanzeigen und 89 Ordnungswidrigkeiten, davon 38 Verkehrsordnungswidrigkeiten, 16 Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz und 10 Verstöße gegen die Spielverordnung.
Weil die Kontrollen in sogenannten Verbundeinsätzen von mehreren Behörden durchgeführt werden, benötigt die Polizei keinen begründeten Verdacht oder Durchsuchungsbeschluss. Rechtlich ist das durchaus fragwürdig. „Die Begründungen sind immer anders“, bemängelt der Innenpolitiker Niklas Schrader. „Mal organisierte Kriminalität, mal Schwarzarbeit, mal Steuerhinterziehung, mal Coronamaßnahmen.“ Die Motivation sei, in ein bestimmtes Milieu zu gehen und das Signal zu senden: „Wir haben das Sagen.“ Für Schrader eine rassistische Praxis.
Das legt auch eine Studie der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht aus dem Jahr 2022 nahe: Demnach haben Polizei und Behörden meist gar keinen konkreten Verdacht gegen die betroffenen Läden. Vielmehr würden Gründe konstruiert, um in Barbershops, Spätis oder Imbissbuden Kontrollen durchzuführen, in der Hoffnung, dann etwas zu finden.
Laut der Studie, die von der Senatswirtschaftsverwaltung in Auftrag gegeben wurde, sind Einsätze, bei denen gewerberechtliche Kontrollen nur das „trojanische Pferd“ für die polizeiliche Informationsgewinnung über mögliche kriminelle Aktivitäten sind, rechtsstaatlich problematisch. Die Vermischung von Gewerbe- und Strafverfolgung sei „unzulässig“: „Das Gewerberecht ist kein Türöffner für die präventive Kontrolle von Straftaten.“ Zudem würden bestimmte Gewerbe dadurch überdurchschnittlich oft kontrolliert, andere hingegen kaum oder gar nicht.
Gewerbetreibende bangen um ihre Existenz
„Die Gewerbetreibenden fühlen sich ungerecht behandelt und kriminalisiert“, sagt auch Basem Saed von der deutsch-arabischen Initiative „Unsere Stimme zählt“. Das Image von Neukölln und Shishabars habe sich durch die Razzien massiv verändert. Mit fatalen Konsequenzen für die Ladenbesitzer*innen: „Durch diese Razzien rutschen sie in die soziale Hilfsbedürftigkeit, da Kunden ausbleiben.“, sagt Saed. Für ihn ist klar: „Die Razzien sind politisch motiviert, nicht juristisch.“
Doris Liebscher, die Leiterin der Ombudsstelle, sieht gleich mehrere mögliche Verstöße gegen das Landesantidiskriminierungsgesetz. Da Shishabar-Betreiber*innen hauptsächlich Migrant*innen seien, seien diese Einsätze herkunftsbezogene Diskriminierung. Zumal das massive Polizeiaufgebot nicht verhältnismäßig sei und zu Stigmatisierung und Diskriminierung führe. Das Label „verdachtsunabhängig“ sei dabei ein Einfallstor für Diskriminierung.
Polizei und Bezirksamt leugnen gar nicht erst, dass sich die Kontrollen immer gegen die gleichen Läden richten. Es geht ihnen um medienwirksame „Nadelstiche“, um „illegale Aktivitäten“ zu stören. Dafür, dass es sich bei den betroffenen Läden um „Clan-Wohnzimmer“ handeln soll, konnte die Polizei bislang jedoch keine Belege liefern.
Dennoch sind die Polizist*innen teilweise mit Maschinenpistolen bewaffnet, tragen kugelsichere Westen und haben Polizeihunde dabei. Gäste werden kontrolliert, dürfen teilweise stundenlang nicht auf die Toilette. Viele Besucher*innen bleiben schließlich weg. Manche Durchsuchungen hinterlassen Sachschäden, die Geschäftsleute werden von der Nachbarschaft für Kriminelle gehalten.
Dagegen wehren sich die Gewerbetreibenden. Doch es sieht nicht so aus, dass sich an der Einsatzpraxis etwas ändert: Am Freitagabend, nur einen Tag nach dem Treffen, fand in einer Bar um die Ecke wieder eine Razzia statt. Die Polizei rückte mit mehreren Mannschaftswagen an und kontrollierte Besitzer und Gäste.
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