Rat zu Feiern im Familienkreis: Wie die Festtage friedlich werden
Der Braten ist angeschnitten, der Stiefvater erzählt von seiner Pegida-Demo. Ratschläge, wie man die Feiertage ohne Eskalationen übersteht.
Es ist dunkel geworden. Die Lichter am Weihnachtsbaum spiegeln sich im Wohnzimmerfenster, im Kamin knarzt und knistert ein Feuer, die Kinder bauen in der Ecke die Krippe auf, irgendjemand knackt Nüsse. Aus der Küche dringt das Tschopp-Tschopp-Tschopp vom Zwiebelschneiden und aus den Lautsprechern des Plattenspielers trällert eine Knabenstimme „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben“. Maximal festlich halt.
„Diese Flüchtlinge, das sind doch alles kriminelle Banden“, sagt auf einmal einer. „Es kommen nur junge Männer, die vergewaltigen hier die Frauen und stecken die Notunterkünfte doch selbst in Brand.“ Darauf eine andere: „Und mir kannst du doch nichts erzählen: Die Politiker sagen den Chefredakteuren, welche Linie im Blatt stehen soll. Öffentlich-rechtliche Nachrichten schaue ich schon lange nicht mehr, alles gleichgeschaltet. Ich informiere mich nur noch online über die Nachdenkseiten: ‚Für jene, die am Mainstream der öffentlichen Meinungsmacher zweifeln’ – eben.“
Halleluja, und den Menschen ein Wohlgefallen.
Es geht ein Riss durch viele Familien in unserem Land. In diesem hochpolitischen Jahr ist es fast unmöglich, dass selbst in selbstdeklariert unpolitischen Familien nicht über Politik gesprochen wird, wenn alle mal wieder zusammenkommen, wie in diesen Tagen. Im Extremfall fühlt es sich an, als hätten Vater, Mutter, Schwester, Onkel oder Oma den Gesellschaftsvertrag gekündigt. Eine Situation hart an der Grenze von „Mit diesen Menschen kann ich nicht an einem Tisch sitzen“.
Fakten: Falls sie noch auf der Suche nach harten Zahlen und Fakten sind, um etwas in petto zu haben gegen diesen Verschwörungsirrsinn: Der „Mediendienst Integration“ hat alle relevanten Statistiken zu Flucht und Asyl hart recherchiert, samt seriöser Quellenangaben: www.mediendienst-integration.de
Notfall: Holen Sie die Brettspiele raus, legen Sie Rommeekarten auf den Tisch oder kramen Sie die alten Fotoalben aus dem Schrank. Damit sind Themenwechsel garantiert.
Aber was tun, wenn man genau diesen Super-GAU vermeiden will? Vor allem, wenn man weiß, dass eine nüchterne, faktenbasierte Argumentation total für die Katz ist? Wie lässt sich dieses Miteinander gestalten, ohne die eigenen Überzeugungen zu verraten? Und wenn es nur für die drei, vier Stunden an Heiligabend ist?
Wir haben uns Rat geholt: von der Diplompädagogin Christine Schachtsiek, die in der offiziellen Berliner Leitstelle für Sektenfragen berät und sich mit hermetischen Weltbildern auskennt, und von Björn Enno Hermans, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, DGSF.
Die Kerzen brennen schon. Gleich geht es los. Wie stimme ich mich ein?
„Man muss sich vorher überlegen: Wen will ich erreichen – und was?”, sagt die Sektenexpertin Christine Schachtsiek. „Was sind meine Prioritäten? Wann ist für mich das Treffen gut gelaufen?” Vor allem dürfe man eine allgemeingültige Wahrheit nicht vergessen, so Familientherapeut Hermans: „Blut ist dicker als Wasser: Dieser Kerngedanke hilft, Situationen zu ordnen. Es gibt Bindungskräfte innerhalb einer Familie, bestimmte Dinge auszuhalten, ohne sie gutzuheißen.”
Ich kenne meine Pappenheimer – und ahne, wer welche Position vertritt. Wie wäge ich meine Reaktionen ab?
Am besten, man legt sich eine Skala zurecht, um mit bestimmten Äußerungen umzugehen: von 1 wie „Hier rein, da raus“ bis 10 wie „Ich eskaliere gleich“. Hermans rät, sich folgende Fragen zu stellen: „Was kann ich im Rahmen der Meinungsfreiheit so stehen lassen, auch wenn es nicht meiner Meinung entspricht? Was kann ich akzeptieren als Teil einer Bandbreite an Meinungen? Und wann ist es Quatsch, darüber zu streiten, was wahr ist und was nicht?”
Hole ich mir vorab Verbündete?
Solange keiner beim Essen rausplatze mit einer Offensive wie: „Wir haben übrigens vorhin in der Küche beschlossen, dass wir über X und Y nicht reden“, könne man sich zumindest darauf verständigen, gemeinsam darum zu bitten, bestimmte Themen nicht weiter zu verfolgen, so Schachtsiek.
Oha. Der Braten ist angeschnitten, der Stiefvater erzählt von der letzten Pegida-Demo. Auf meiner Skala von 1 bis 10 ist gerade mit einem Satz die Marke zur 14 überschritten worden. Und nu?
„Dann sollte man klar sagen: ‚Ich möchte das nicht hören, an diesem Punkt ist für mich eine Schwelle überschritten‘ “, sagt Familientherapeut Hermans. „Ich bitte darum, die Diskussion zu beenden – oder ich verlasse die Unterhaltung.“ In einem solchen Fall kann man sich auch räumlich distanzieren.”
Abhauen? Gerade keine Option. Was wäre Plan B?
Als inneres Mantra rät Christine Schachtsiek: „Ich kann mich heute hier entspannen, ich muss unterm Tannenbaum nicht die Welt retten.“ Sie schlägt vor, in eine Rolle zu schlüpfen: „Man kann auch eine ethnologische Perspektive einnehmen“, also aus aufrichtiger Neugier nachfragen. Schließlich seien diese Themen nicht rational, sondern hoch emotional besetzt.
Na gut. Welche Fragen taugen, um solche Gespräche anzukurbeln?
„Was sind deine Ängste?“, „Was fühlst du?“, „Warum interessiert dich das so?“, „Wenn alles so eintritt, wie du es dir wünschst: Haben wir dann noch etwas gemeinsam?“ Voraussetzung dafür sei, dass man nicht gewinnen, keinen überzeugen wollen dürfe.
Und dann am besten hinterherschieben: Wie war das eigentlich damals, als Opa und Oma aus Ostpreußen flohen?
Ganz schön subtil! Eine solche Ebene könne nur fruchtbar sein, wenn das Thema „Flucht in der eigenen Familie“ nicht funktionalisiert und politisch aufgeladen wird, so Schachtsiek: „Durchs Hintertürchen klappt so etwas nicht.“
Also soll ich doch besser einfach meine Klappe halten?
Das hängt nicht nur von der eigenen Fähigkeit zum Stoizismus ab, sondern auch davon, wer alles im Raum ist, wie viele Personen der Unterhaltung beiwohnen. Gerade wenn Dritte anwesend sind, die empfänglich sind für Verschwörungstheorien oder rechtsextreme Positionen, sollte man definitiv reagieren und klar Position beziehen, rät Christine Schachtsiek: „Und zwar weniger, um denjenigen zu erreichen, der diese Dinge sagt, als die Zuhörer.” Ansonsten sollte man laut Hermans bedenken: „Der Ansatz ‚Ball flachhalten‘ hilft vielleicht für den Moment, aber nicht als langfristiger Umgang mit Onkel Franz, der rechtsextreme Positionen vertritt.“
Ja, ja, wir feiern das Fest der Liebe – aber das Problem bleibt ja. Wie gehe ich mit diesen Familienmitgliedern ab 1. Januar um?
„Wenn man das Bedürfnis hat, sollte man einmal klaren Tisch machen, alle Argumente auf den Tisch packen“, sagt Sektenspezialistin Christine Schachtsiek, „aber eben vielleicht wirklich nicht an Weihnachten.“ Vielmehr kann diese Erkenntnis Anlass sein, ganz grundsätzlich über das Verhältnis miteinander nachzudenken: „Ich könnte mir überlegen, welcher Teil der Beziehung mir wichtig ist“, sagt Familientherapeut Hermans. „Etwa indem man ein inneres Tortendiagramm aufmacht: Gibt es Widersprüche? Kann diese Person in anderen Situationen liebevoll und zugewandt agieren?“
Aber egal ob an Weihnachten oder bei der Goldenen Hochzeit, es läuft doch eh alles wie immer: Mein Bruder sagt dies, meine Mutter wirft ihm einen Blick zu, Opa verlässt türeknallend das Haus, dann betrinken sich alle.
„Was man kontrollieren kann, ist begrenzt“, betont Familientherapeut Björn Enno Hermans. „Wir sind Gott sei Dank komplexe menschliche Wesen.“ Aber diese Rituale aus dem Effeff zu kennen, hat in solchen brisanten Situationen durchaus Vorteile: Man kann die Strategie wechseln. Oder wie es Christine Schachtsiek formuliert: „Ich kann meine Mitmenschen nicht beeinflussen – aber mein eigenes Verhalten ändern, um so Muster zu ändern.“ Etwa: „Ich kann mir vornehmen, mich bewusst anders zu verhalten als sonst, um diese tradierten Strukturen aufzubrechen.“
Super. Jetzt habe ich den rosa Elefanten im Raum thematisiert, gesagt, dass es einen Konflikt gibt – und ich bin die Böse.
„Dann haben einen nicht alle lieb“, sagt Schachtsiek nüchtern. „Aber das muss man dann aushalten.”
Na dann: „Jauchzet, frohlocket!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren