Rassistische Brandstiftung in Solingen: Wurde das Motiv vertuscht?
Im Prozess zum Anschlag auf ein von Migrant:innen bewohntes Haus mehren sich Hinweise auf rechtsextremes Motiv. Anwältin klagt die Polizei an.
Die Anzeige richte sich außerdem gegen „drei weitere Beamte“, die bei der Durchsuchung des Wohnhauses des mutmaßlichen Täters dabei waren – „und weitere, mir namentlich nicht bekannte Beamte“, erklärte die Anwältin.
Polizeipräsident Röhrl hatte gemeinsam mit seinen Beamten knapp zwei Wochen nach der Tat einen heute 40-Jährigen Verdächtigen präsentiert – und erklärt, Hinweise auf ein fremdenfeindliches Motiv gebe es nicht. Dies seien „gute Nachrichten“, die eine „große Erleichterung“ bedeuteten. „Der Brandanschlag hat schlimme Erinnerungen an Solingen 1993 und Verunsicherung hervorgerufen“, sagte Röhrl am 10. April 2024.
Der Polizeipräsident bezog sich dabei auf den von vier Rechtsextremen vor knapp 32 Jahren am 29. Mai 1993 verübten Brandanschlag auf das Solinger Haus der türkischstämmigen Familie Genç. Dabei waren fünf Frauen und Mädchen getötet und mehr als ein Dutzend weitere Familienmitglieder zum Teil lebensgefährlich verletzt worden.
Im jetzt laufenden Prozess aber zeigt sich: Die Entwarnung der Wuppertaler Polizei war womöglich vorschnell und politisch motiviert. Denn erst auf Drängen von Nebenklagevertreterin Başay-Yıldız tauchen immer mehr Indizien auf, die sehr wohl auf einen rechtsextremistischen Hintergrund des Angeklagten Daniel S. schließen lassen können. So wurden im Gerichtssaal am Freitag erstmals Bilder neonazistischer Literatur gezeigt, die im Wohnhaus des mutmaßlichen Täters gefunden wurden, darunter Hitlers für den Nationalsozialismus grundlegende Propagandaschrift „Mein Kampf“.
„Skandalöse Ermittlungen“
Außerdem fanden sich Pamphlete, die offenbar Hitlers langjährigen Vertrauten Hermann Göring, dessen erste Frau Carin und die nationalsozialistische Wehrmacht verherrlichen. Auch auf einer bei S. vorgefundenen Festplatte, deren Inhalt Anwältin Başay-Yıldız erst in diesem März zur Verfügung gestellt wurde, gab es 166 hetzerische Bilddateien sowie menschenverachtende und beleidigende Kommentare gegenüber schwarzen Menschen und Jüd:innen. Und an der Wand der Garage des Hauses hing offenbar ein Auszug des als volksverhetzend eingestuften „Lied eines Asylanten“.
Belastend scheint auch die Handy-Kommunikation des Angeklagten: Zwar hat der das Gerät wohl selbst vernichtet – doch ein mit dem Handy verknüpftes Google-Konto, das Başay-Yıldız auswerten konnte, zeige, dass der im Nationalsozialismus gern gehörte Schlager wie „Erika“, aber auch das „Lied der Wehrmacht“ konsumiert habe, so die Nebenklage-Vertreterin.
Deren bitteres Fazit: Mehr als „skandalös“ seien die Ermittlungen der Polizei. Vielmehr sei „die Öffentlichkeit bewusst getäuscht“ worden, als „der Polizeipräsident behauptete, dass es sich nicht um ein politisches Motiv handelte“ – dieser Eindruck habe „offensichtlich um jeden Preis“ vermieden werden sollen.
Verärgert und konsterniert reagierte auch der Vorsitzende Richter Joachim Kötter. „Das stößt bitter auf“, erklärte er am Freitag in der laufenden Gerichtsverhandlung. „Ich muss Ihnen zugestehen“, sagte er zu der Anwältin, „dass das nicht passieren darf.“ Schließlich werde sonst bei einer gerichtlich angeordneten Durchsuchung „jeder Abstellraum akribisch untersucht“.
Vorwurf: vierfacher Mord und 21-facher versuchter Mord
Die Verteidigung machte dagegen deutlich, dass sie bei Ihrer bisherigen Linie bleiben will: Danach könnte das belastende rechtsextreme Material auch der Lebensgefährtin des Angeklagten oder dessen Vater „zugeordnet werden“. Auch die Staatsanwaltschaft hatte bisher argumentiert, Hintergrund der Brandstiftung sei ein Streit mit der Eigentümerin des angezündeten Hauses, in dem der Angeklagte selbst einmal gewohnt hat. Anwältin Seda Başay-Yıldız beantragte dagegen, dass das gesamte belastende rechtsextreme Material im laufenden Prozess bewertet wird. Weitere Nebenklage-Vertreter schlossen sich ihren Anträgen an.
Schließlich geht es in dem Prozess nicht nur um die vier Toten der aus Bulgarien stammenden Familie – die Eltern wurden nicht einmal 30 Jahre alt, ihre Kinder waren erst 2021 und 2023 geboren worden. Der Angeklagte muss sich auch wegen Mordversuchs an weiteren 21 Menschen verantworten. Darunter war auch ein Paar, das mit dem 18 Monate alten Sohn aus dem dritten Stock sprang, nachdem das hölzerne Treppenhaus des von ihnen mit bewohnten Altbaus nach Entzündung von mindestens einem Liter Benzin wie eine Fackel gebrannt hatte.
„Meine Mandanten“, sagte Anwältin Başay-Yıldız deshalb in dem Prozess, in dem das Urteil ursprünglich schon im März gesprochen werden sollte, „wollen Aufklärung“ – egal, wie lange es dauere. Der Prozess wird nächste Woche fortgesetzt. Eigentlich sollte im April das Urteil fallen, aber nun werden weitere Termine angesetzt.
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