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Rassismustheorie auf dem PrüfstandTheorie statt Bekenntnis

Ein Sammelband zeigt die Leerstellen aktueller Rassismustheorie. Statt um die Bedingungen seiner Entstehung geht es oft nur um Bekenntnisse.

15000 Menschen erinnerten in Berlin an den Tod des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt Foto: Pierre Adenis

Auf kaum etwas können sich derzeit die unterschiedlichsten Menschen und Gruppen leichter einigen als auf das Bekenntnis, antirassistisch zu sein. Das Nein zum Rassismus ist längst nicht mehr nur auf linken Flugblättern zu finden, sondern gehört zur Standardrhetorik von Firmenmemoranden, Presseerklärungen und Werbekampagnen. Was aber in einem spezifischen Sinne als rassistisch gelten kann, worin das Phänomen seine Ursachen hat und wie es zu bekämpfen wäre, darüber herrscht alles andere als Einigkeit.

Handelt es sich um ein Vorurteil, eine Struktur oder um eine quasi ontologische, unhintergehbare Conditio von Weißen? Welche Rolle spielt es für die Analyse von Rassismus, ob man selbst rassistisch diskriminiert wird oder nicht? Worin besteht der Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus? Und warum ist die Haltung des Antirassismus, wie bei der documenta fifteen zu beobachten war, durchaus vereinbar mit der Blindheit für antisemitische Aussagen, Bilder und Positionen?

Es ist vor diesem Hintergrund weder falsch noch übertrieben, über „Probleme des Antirassismus“ zu sprechen, wie es im Titel eines jüngst in der Edition Tia­mat veröffentlichten Sammelbandes heißt. Im Zentrum der Kritik stehen dabei Theorieansätze, deren Prämissen, Thesen und Terminologien – häufig aus ihrem historischen und wissenschaftlichen Kontext gerissen – seit einigen Jahren medial, politisch und wissenschaftlich immer mehr an Bedeutung gewinnen: die Critical Race Theo­ry, Forschungen zu Intersektionalität und Critical Whiteness sowie der Postkolonialismus.

Der Anlass des von Ingo Elbe, Robin Forstenhäusler, Katrin Henkelmann, Jan Rickermann, Hagen Schneider und Andreas Stahl herausgegebenen Bandes ist ein „grundlegendes Unbehagen“ gegenüber diesen Strömungen, das sich auf deren theo­retische Leerstellen, politische Implikationen und Schlussfolgerungen bezieht.

Das Buch

Andreas Stahl u. a. (Hg.): „Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik“. Edition Tiamat, Berlin 2022, 592 Seiten, 34 Euro

Dazu gehört die in einigen Teilen des Critical-Whiteness-Milieus vorherrschende Neigung zu individualisierender Schuldrhetorik und Bußritualen, die zirkuläre Rückführung rassistischer Praktiken auf einen immer schon dagewesenen Rassismus, die De-Thematisierung von Rassismus und Antisemitismus in anderen Bereichen als der Mehrheitsgesellschaft, die einseitige und dämonisierende Kaprizierung auf Israel oder das Verwischen des Unterschieds zwischen Holocaust und Kolonialismus, zwischen Rassismus und Antisemitismus.

Entkoppelung von Rassismus und politischer Ökonomie

Darüber hinaus, so die Einleitung, wurden „gesellschafts­theo­re­tische und empirische Ras­sis­mus­analy­sen an den Rand gedrängt“, was unter anderem in der Entkoppelung von Rassismus und politischer Ökonomie zugunsten einer Auflösung in verschiedene, wie es im Duktus der Intersektionalitätstheorie heißt, „sich überschneidende“ Diskriminierungsformen zum Ausdruck kommt.

Dem begegnen die 19 Beiträge des Bandes mit einigem theoriegeladenen Aufwand – das Buch ist nicht weniger als 592 Seiten stark. Nicht nur werden in unpolemischer, quellennaher und sachorientierter Weise einige zentrale Begriffe der Debatte kritisch hinterfragt, zum Beispiel der Begriff des Privilegs, die Rede vom strukturellen Rassismus, der Vorwurf des Siedlerkolonialismus an die Adresse Israels oder das durch Michael Rothberg popularisierte Theorem der „multidirektionalen Erinnerung“.

Sie unternehmen darüber hinaus materialistische Rassismusanalysen aus einer historisch fundierten und sozialpsychologischen Perspektive in der Tradition der Kritischen Theorie, prüfen die Wirksamkeit antirassistischer Maßnahmen, wie die inzwischen immer mehr institutionalisierten Diversity-Trainings, oder setzen sich mit einzelnen Theoretikern wie Achille Mbembe oder Edward Said auseinander.

Dass über Begriff, Praxis und Theorie des Rassismus beziehungsweise des Antirassismus gestritten wird, ist freilich keineswegs neu. Robert Miles kritisierte bereits Ende der 1980er Jahre eine Inflationierung des Rassismusbegriffs. Detlev Claus­sen sprach 1994 vom Antirassismus als „Kümmerform von Gesellschaftskritik“ und diagnostizierte der Linken eine Kompensation ihres historischen Bedeutungsverlustes durch moralische Gewissheit.

Und 2012 kritisierten Juliane Karakayali, Vassili Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim den Critical-Whiteness-Ansatz als individualisierende, antiuniversalistische und letztlich unpolitische Initiative, die die Bekämpfung rassistischer Praktiken verhindert.

Dass viele der in diesen Diskussionen verhandelten Fragen alles andere als erledigt sind, unterstreicht die Aktualität des Sammelbandes. Auch das zwar nicht von allen, aber doch einigen Texten in Anspruch genommene Projekt einer Gesellschaftstheorie, die mehr ist als die Aufrechnung von Diskriminierungsformen und die sich der Suche nach dem bestimmenden Unterschied und der historischen Urteilskraft verschreibt, verdient, hervorgehoben zu werden.

Empfohlen sei der Band aber nicht nur Leserinnen und Leser, die dieses Interesse teilen. Seine Lektüre würde sowohl für diejenigen lohnen, die jede noch so zaghafte Kritik antirassistischer Ansätze reflexhaft als „rassistisch“ und „rechts“ abkanzeln, als auch für den durchaus existenten Typus des Kulturkämpfers, dem im Eifer über eine nur noch als Schlagwort evozierte „Identitätspolitik“ jeder Blick für rassistische Ungleichbehandlung verloren geht.

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3 Kommentare

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  • "Handelt es sich um ein Vorurteil, eine Struktur oder um eine quasi ontologische, unhintergehbare Conditio von Weißen?"

    Anzunehmen, Rassismus sei eine "quasi ontologische, unhintergehbare Conditio von Weißen" stellt selbst in sich einen rassistischen Ansatz dar. Wenn angenommen wird, "Weiße" seien generell, alleine durch ihre Existenz, Rassisten, ist dies rassistisch.

    • @Stefan Schaaf:

      Als Kategorie zur Klassifizierung von Menschen ist "Weiß" selbstverständlich rassistisch. Es ist eine Kategorie, die nur in Abgrenzung, in Relation zum anderen (zu nicht-weißen Menschen) existiert. Eine Kategorie, die in den frühen Formen des Kolonialismus entwickelt wurde, um Solidarität zwischen versklavten Menschen, und solchen, die vielleicht "nur" als Lohnarbeiter oder unter Vertragsknechtschaft auf den Plantagen arbeiteten.

      Wenn's also um eine Position in einer Struktur geht, eine Position, die in die eigenen Identität gesellschaftlich sozusagen "eingeschrieben" wird, dann ist das zunächst mal unabhängig davon, ob man selbst Rassismus scheiße findet. Ein einzelner Baron im 18. Jhd. kann ja z.B. auch ein Liberaler gewesen sein, und trotzdem ist die Position in der er sich als Baron findet, eine anti-liberale.

      Die Tatsache, dass Sie "Weiß" gar nicht gesellschaftlich/relational lesen können, sondern das als inheränte Eigenschaft eines Individuums betrachten, zeigt ja nur wie richtig & wichtig genau diese Kritik ist, die auf den sozialen Character und seine individuelle Einschreibung in den Menschen hinweist.

    • @Stefan Schaaf:

      "Wenn angenommen wird, "Weiße" seien generell, alleine durch ihre Existenz, Rassisten, ist dies rassistisch."



      Bingo.



      Deshalb wurde ja auch in neuerer Zeit versucht, den Rassismusbegriff umzudefinieren und in Verbindung mit (weißer) Macht zu bringen. Was in sich weder wirklich logisch noch faktenresistent ist, aber dennoch kolportiert wird.