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Rassismus und psychische GesundheitGanzheitliche Dekolonisierung

Viele Antirassismusangebote helfen bei Konfrontationen von außen. Bei Critical Wellness dagegen geht es um körperliche und psychische Folgen.

Rassismus tötet auf viele Arten Foto: teutopress/imago

Rassismus tötet. Seit Jahren wird dieser Spruch auf Pappschilder für antirassistische Demonstrationen geschrieben. Ob in den USA, Europa oder direkt hier in Deutschland, die Liste derer, deren Namen nie in Vergessenheit geraten dürfen, wird immer länger. Doch Rassismus tötet nicht nur dann, wenn in der Berichterstattung davon zu lesen ist.

Und Rassismus tötet nicht nur mit Anschlägen und Waffengewalt, sondern auch mit gesellschaftlicher Isolation. Die tägliche Spiegelung, kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, aber auch die ständige Konfrontation mit Vorurteilen und Klischees haben Auswirkungen auf die Psyche von BPoC. Doch der Zusammenhang zwischen Rassismus und psychischer Gesundheit ist in Deutschland bislang kaum untersucht.

Verschiedene Studien aus den USA zeigen: Schwarze Frauen leiden häufiger unter psychischen Krankheiten wie Essstörungen und Burn-out. Zwar kommen die Studien teils zu unterschiedlichen Zahlen, doch Schwarze Frauen erkranken psychisch mindestens dreimal häufiger als weiße Frauen. Die Konfrontation mit Rassismus fordert Schwarzen, Indigenen und People of Color enorm viel psychische und körperliche Energie ab. Energie und Zeit, die für Familie, Schule, Arbeit und gesellschaftliches Engagement fehlen, schreibt die Psychotherapeutin Amma Yeboah in der an der Universität Köln 2017 veröffentlichten Publikation Rassismuskritik und Widerstandsformen.



Eine, die sich in Deutschland dieser Problematik widmet, ist die Personalentwicklerin Mariela Georg. Mit „Cricital Wellness“ möchte sie ein Konzept etablieren, das eine Mischung aus Macht- und Diskriminierungskritik und Wellness darstellt. Denn beides sind essenzielle Grundsteine für eine gesunde psychische Verfassung von Menschen mit Diskriminierungserfahrung.

Um das eigene Wohlergehen kümmern

Die 34-Jährige arbeitet hauptberuflich in der Antidiskriminierungsarbeit, zusätzlich hat sie sich zur Mediatorin, Fitnesstrainerin und zum Stresscoach ausbilden lassen. Ihr geht es vor allem darum, Menschen dabei zu helfen, das eigene Selbstbild zu stärken und Erlebtes zu verarbeiten. Denn die vielen Antirassismusangebote konzentrieren sich meist darauf, sich gegen alltäglichen Rassismus zu wehren und Konfrontationen von außen zu begegnen, und nicht darauf, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern.

„Critical Wellness ist ein ganzheitlicher und bewusst ergriffener Weg hin zur Dekolonisierung von Kopf und Körper, um Selbstverwirklichung zu erreichen. Critical Wellness versucht den Spagat zwischen gesellschaftlicher Partizipation beziehungsweise Aktivismus und dem persönlichen Wohlergehen, sodass auch marginalisierte Menschen den sozialen Wandel mitgestalten, es ist ein Prozess und kein Zustand“, sagt Georg der taz. Es geht um das kritische Bewusstsein darüber, was Rassismus mit einer Person psychisch und körperlich und mit der Gemeinschaft und dem persönlichen Umfeld macht. Die Auswirkungen werden auf den verschiedenen Ebenen betrachtet, um dann Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Wellness stand Schwarzen nie zu

Durch puren Zufall kam sie vor einigen Jahren dazu, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen. Im Jahr 2017 besuchte sie eine Konferenz zum Thema Schule und Rassismus: „Auf der Konferenz wurden Workshop-Ideen für den nächsten Tag vorgeschlagen. Jemand schlug Critical Whiteness vor, doch zunächst meldeten sich keine potenziellen Teilnehmer:innen. Ich dachte mir, echt, was ist denn hier los?! Eine Teilnehmerin fragte: Was für ein Quatsch ist denn Critical Whiteness? Nach so einer langen Konferenz brauche ich eher Critical Wellness“, sagt Georg. Erst war sie irritiert, dann ließ sie die Wortkombination nicht mehr los.

Denn Wellness und Erholung standen Schwarzen Menschen nie zu, Erholung war stets ein Privileg weißer Menschen. Instagram und Youtube sind voll mit Anleitungen zu einstündigen Yoga– und Meditationssessions oder mit Rezepten für grüne Smoothies. Der Hashtag #selfcare umfasst bei Instagram knapp 50 Millionen Beiträge. Yoga, Meditation oder Smoothies, all das können Auszeiten sein, die Menschen helfen können abzuschalten. Für Menschen, die im Alltag Stress ausgesetzt sind, ist das sicherlich hilfreich, doch kratzt es letztendlich nur an der Oberfläche. Denn bei der ständigen Konfrontation mit Diskriminierung hilft ein bisschen Yoga nur bedingt. Stattdessen brauchen Betroffene Unterstützung bei der Bewältigung ihrer seelischen Verletzungen.

Rassismus lässt altern

Auch in der Medizin wird der Critical-Wellness-Ansatz unterstützt. Mehrere Studien belegen, dass Personen mit Migrationshintergrund besonders vielen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, welche das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen. Dazu gehören beispielsweise Armut im Wohnumfeld, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnsituation, Diskriminierung und Rassismus. Belastungsfaktoren, welche für viele Mi­gran­t:in­nen alltägliche Realität darstellen. Medizinische Studien weisen sogar darauf hin, dass Menschen, die Rassismus erfahren, schneller altern, weil sich ihre Zellen verändern.

Elizabeth Blackburn bekam 2009 den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung eines „Unsterblichkeitsenzyms“. Die Forscherin entdeckte mit zwei weiteren Kollegen, wie die Erbgutträger (Chromosomen) einer jeden Zelle durch bestimmte Enzyme (Telomerasen) vor Beschädigung geschützt werden. Sie spielen auch eine Rolle beim Alterungsprozess. Blackburn fand auch das Enzym Telomerase, das die Schutzhelme der Chromosomen herstellt. Telomerase kann die Endstücke sogar wieder verlängern.

Entspannung baut Stress ab

Schon in der frühen Kindheit beeinflussen Erfahrungen wie soziale Vernachlässigung, Gewalt und Rassismus die Telomere, die Endstücke der Chromosomen, und zwar langfristig. Freundschaften, Beziehungen oder Wohngegenden mit großem sozialem Zusammenhalt wirken sich positiv auf die Telomere aus. Jegliche Art von intensiver Entspannung, wie beispielsweise Meditation, baut nachweislich Stress ab, und die Konzentration des Enzyms Telomerase, das die Telomere regeneriert, erhöht sich.

Dieses Wissen setzt Mariela Georg in der Praxis um. 

Sie gründete 2019 die Empower-Mental-Schule, während Corona finden ihre Angebote vor allem digital statt. Sie bietet Workshops zur Bewältigung von Rassismus- und Sexismuserfahrungen an. Dabei geht es vorrangig darum, den körperlichen, seelischen und psychischen Spuren von Rassismus nachzugehen. Es gibt Gruppen- und Einzelgespräche, Workshops, die sich auf Stressprävention konzentrieren, und Self-Care-Workshops. Dabei geht es vor allem darum, mit den Teilnehmenden einen personalisierten Self-Care-Plan zu erstellen, damit sie diesen dann auch nach den Workshops umsetzen können.

„Was macht Rassismus mit mir?“

„Wenn es um Empowerment geht, sind wir sehr schnell dabei, die Frage nach dem eigenen Verhalten, der eigenen Reaktion auf Rassismus oder dem Umgang mit der rassistischen Situation zu beantworten. Zu selten stellen wir die Frage: ‚Was macht der Rassismus denn eigentlich mit mir?‘, sagt Mariela Georg.

Ihre Workshops sind eine Kombination aus Sporteinheiten, Erfahrungsaustausch und Bewältigungsstrategien. Und diese können noch so einfach erscheinen. Wie ein einfaches Antrainieren von tiefem Ein- und Ausatmen, nachdem eine Situation oder ein Kommentar verletzend war, bevor man eine passende Antwort gibt. Das Atmen kann dabei helfen, wieder bewusst die Kontrolle in einer Situation zu gewinnen. Oft ist auch das schon ein erster heilsamer Prozess, denn es nimmt der Situation die Hilflosigkeit.

Der Grundsatz von Critical Wellness ist dabei, die Balance zwischen Self Care und Community Care (wieder-)herzustellen. „Wenn ich mich mit internalisierten Unterdrückungsformen auseinandersetze, geht es mir besser und somit auch der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft sich kritisch mit Diskriminierung auseinandersetzt, geht es mir ebenfalls besser. Doch die Veränderung sollte bei jeder einzelnen Person beginnen. Wellness ist in diesem Kontext ein gleichermaßen schmerzvoller wie notwendiger Prozess“, sagt Georg.

Dabei geht es um einfache Momente der bewussten, regelmäßigen Entspannung wie Sport, eine Gurkengesichtsmaske oder ein Buch lesen. 

Der Fokus liegt auf einer bewussten Reflexion der eigenen Glaubenssätze und von internalisiertem Rassismus. Und vermutlich liegt dort auch der Kern im Ansatz von Critical Wellness, den Georg mit einer simplen Frage ausdrückt: „Wenn morgen die Welt von jeglicher Art und Weise von Rassismus befreit wäre, wäre dann alles gut?“ Für jemanden mit Rassismuserfahrung kann ich die Frage klar beantworten: Nein. Denn die Erinnerung, der Schmerz bleibt. „Ganz genau“, sagt Mariela und fügt hinzu: „Denn dann wäre die Zeit, um zu verarbeiten.“

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