Rassismus bei der Wohnungssuche: „Ich will nicht mehr zurück“
Um dem Militärdienst in Syrien zu entgehen, flüchtete Ali Issa 2015 nach Bremen. Er erzählt, warum er sich dort trotz allem so wohl fühlt.
Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Wir telefonieren ab und zu, wenn es Strom gibt. Sie und unsere kleine Schwester leben noch dort, in einer kleinen Stadt zwischen Homs und Hama. Es ist sehr schwer für sie, es gibt kein Wasser, die Lebensmittel sind teuer. Aber es gibt keine Möglichkeit für sie, hierher zu kommen.
Die Flucht
Ich erinnere mich noch genau an den Tag unserer Abreise. Am 21. August 2015 um vier Uhr morgens sind wir in einen Bus gestiegen. Davor hatten wir alle unsere Verwandten und Freunde verabschiedet. Das ganze Haus war voller Menschen. Alle waren traurig, aber sie haben versucht, es nicht zu zeigen. Ich hatte ein weißes T-Shirt an, eine Jeans und meinen Rucksack bei mir. Meine Mutter wollte nicht mit zum Bus kommen, sie hat das nicht geschafft.
In dem Moment, in dem sich die Bustüren schlossen, wusste ich, das war’s. Mein Bruder und ich haben uns aneinandergedrückt und die ganze Zeit geweint. Im Libanon haben wir Station bei meinem Onkel und meinem großen Bruder gemacht, sie arbeiten dort. Noch ein schwerer Abschied. Im Flugzeug in die Türkei haben wir wieder geweint. Solange wir im Libanon waren, hatten wir noch den Wunsch umzukehren, aber jetzt war klar: Es gibt keinen Weg zurück.
Von der Türkei sind wir nach Griechenland gefahren, um 23.30 Uhr ging es los. Mit 40 Leuten, Männern, Frauen, Kindern, in einem viel zu kleinen Boot, etwa drei Meter lang. Nach vier Stunden und 40 Minuten durch die Dunkelheit sind wir angekommen. An Land war eine unglaubliche Stimmung. Alle haben sich umarmt, wir waren so glücklich, es geschafft zu haben.
Dann sind wir mit dem Schiff nach Athen gefahren und von dort zu Fuß über Makedonien und Serbien nach Ungarn und von dort nach Österreich. Wir haben meistens auf der Straße geschlafen. Zu essen und trinken hatten wir nichts, aber manchmal haben Leute etwas verteilt. Es gab oft Sardinen in Tomatensoße. Ich kann das nie wieder essen. Alleine wenn ich die Dosen sehe, erinnere ich mich sofort an diese Zeit.
Wir sind in allen Ländern schlecht behandelt worden, aber am schlimmsten war es in Ungarn. Polizisten haben uns geschlagen, weil sie uns nicht weiterlassen wollten. Wir kamen ins Gefängnis, wo sie uns alle Sachen weggenommen haben – und danach eine Woche in ein eingezäuntes Lager. Es gab dort keine Decken. Mein Bruder und ich haben uns immer zusammengekuschelt, damit uns warm wurde. Ob man zu essen und zu trinken hatte, war Glück. Sie haben uns Brot und Wasser über den Zaun geworfen.
In Wien wurden wir in einen Zug nach München gesetzt. Wir hatten so schlechte Erfahrungen auf der Flucht gemacht, dass wir immer weggelaufen sind, wenn wir in München Polizei gesehen haben. Dort hat ein anderer Geflüchteter Freunde angerufen und gefragt, wo wir hingehen sollen. Die haben gesagt, die beste Stadt in Deutschland sei Bremen – und dort sind wir dann mit dem Zug hingefahren. Wir wussten nichts über Bremen, aber jetzt kann ich sagen, das stimmt hundertprozentig.
Ankommen in Bremen
Der Anfang war aber schwer. Wir haben ein halbes Jahr in Huckelriede gelebt, in einer alten Militäranlage gegenüber der Rolandklinik. Es war furchtbar dort. Es gab keine Zimmer, nur Matratzen und Decken für 50 Leute in einer großen Halle ohne Heizung, und das im Winter. Die Halle hatte keine richtige Tür, sondern ein sechs Meter langes Tor.
Das Essen war richtig eklig und wenn man die Essenszeiten verpasste, gab es nichts mehr. Wir hatten kein Geld, um uns selbst etwas zu kaufen. Es gab viel zu wenig Toiletten, die nur einmal in der Woche geputzt wurden und im Winter konnte man manchmal nicht duschen, weil die Leitungen einfroren. Für mich war es auch unangenehm, mit anderen zusammen zu duschen. Manchmal war das Wasser kochend heiß oder eiskalt.
Danach waren wir noch fünf Monate in Schwachhausen, da hatten wir ein Zimmer. Dann haben wir eine Wohnung in Burg in Nord-Bremen gefunden, mussten aber leider raus, weil das Haus verkauft wurde.
Die Wohnungssuche
Die Rassismus-Erfahrungen, die ich während der Wohnungssuche gemacht habe, waren die schlimmsten. Ich kannte das schon, dass mich andere Menschen abwerten, weil ich aus Syrien komme, das fing im Libanon an. Man merkt das sofort, auch wenn man die Sprache nicht spricht. In München musste ich dringend auf Toilette und habe einen Mann auf Englisch angesprochen. Er hat auf Deutsch geantwortet. Dass es Beleidigungen waren, konnte ich an seinem Ton und seinem Gesichtsausdruck erkennen.
Eine Begegnung während der Wohnungssuche ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Eine Freundin, eine Kinderärztin, hatte eine Wohnung entdeckt, die Vermieter angerufen und einen Termin mit uns gemacht. Sie konnte dann nicht mitkommen, und mein Bruder und ich sind alleine hingegangen. Die Frau hat uns zwar die Wohnung gezeigt, aber uns die ganze Zeit erklärt, dass wir ja kein Geld hätten, um Möbel für die Wohnung zu kaufen.
Dass sie uns die Wohnung nicht vermieten wollte, habe ich erst verstanden, als ihr Mann dazukam. Er hat uns nicht begrüßt und ganz komisch geguckt. Dann hat er gesagt, die Wohnung sei schon weg. Ich habe hinterher einen Freund gebeten, dort anzurufen. Ihm wurde gesagt, die Wohnung sei noch zu haben.
Ich habe in der Zeit ungefähr 100 Wohnungen angeguckt. Irgendwann bin ich immer sofort gegangen, wenn auch Deutsche bei der Besichtigung waren, weil ich wusste, dass ich keine Chance habe. Unsere Wohnung, in der ich jetzt mit meinem Bruder und meiner Freundin lebe, haben wir über einen Makler bekommen. Ein anderer Makler hatte uns gesagt, er würde uns nichts vermitteln.
Rassismus
Den Begriff Rassismus habe ich zum ersten Mal verwendet, als wir in München waren. Damit kann ich sagen, es liegt nicht an mir, dass ich so schlecht behandelt werde, ich bin nicht schuld daran. Zum Beispiel hat mein Bruder eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis bekommen und ich nur ein Jahr. Obwohl unsere Geschichten genau gleich sind. Aber er hat blonde Haare und blaue Augen und ich nicht.
Mir ist es aber wichtig, etwas nur dann rassistisch zu nennen, wenn es das wirklich ist. Ich habe viel Kontakt zu anderen Geflüchteten aus verschiedenen Ländern. Viele sagen, wenn irgendetwas nicht klappt: „Das ist rassistisch.“ Aber in vielen Fällen liegt das an Gesetzen oder ein Sachbearbeiter hatte einfach mal schlechte Laune. Es gibt auch kulturelle Unterschiede, die nichts mit Rassismus zu tun haben.
Mir ist auch schon vorgeworfen worden, rassistisch zu sein. Ich habe in Deutschland gelernt, „Nein“ zu sagen, wenn mich jemand um Hilfe bittet, ich aber selbst zu viel zu tun habe. Ich sage dann: „Es geht jetzt nicht, lass uns einen Termin für nächste Woche machen.“ In meiner Kultur macht man das nicht. Wir müssen immer da sein, sofort. Deshalb sagen manche über mich: „Er ist jetzt ein Deutscher, er hat keine Zeit, er ist Rassist.“ Aber das hat auch viel mit Strukturen zu tun, die hier anders sind.
Einmal war ich eine Woche im Krankenhaus, da waren jeden Tag ungefähr 20 Leute bei mir aus dem Heim, obwohl ich sie gar nicht besonders gut kannte. Neben mir lag ein alter Mann. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er keine Kinder hat, weil er nie Besuch bekam. „Doch, aber die sind beschäftigt, die arbeiten.“ In Syrien wäre es wichtiger, die kranken Eltern zu besuchen als zu arbeiten. Hier gibt es immer Termine, an die man sich halten muss, die sind das Wichtigste.
Nie wieder zurück
Ich vermisse meine Familie und das Leben, das wir dort geführt haben, unser Haus und den Garten, es waren immer Freunde da. Mein größter Wunsch ist es, meine Familie zu besuchen. Aber ich will nicht mehr zurück, auch nicht, wenn der Krieg vorbei ist. Ich musste vor sechs Jahren wieder bei Null anfangen, ein neuer Mensch werden. Das möchte ich nicht noch einmal, ich kann das nicht.
Und Bremen ist meine Heimat geworden. Mein Bremen. Wenn ich nicht hier bin, vermisse ich die Stadt und die Menschen hier. Ich habe viele tolle Menschen hier getroffen. Ich glaube, es ist anders hier als in anderen deutschen Städten.
Nächsten Monat möchte ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Dann kann ich endlich wählen. Die deutschen Gesetze haben Einfluss auf mein Leben, aber ich darf sie nicht mitbestimmen. Dabei ist Deutschland eine Demokratie, in der alle die gleichen Rechte haben. Aber wir haben sie nicht. Wir müssen machen, was im Gesetz steht. Und das machen wir. Ich gehe nicht einmal bei Rot über die Straße wie die Deutschen. Denen ist das egal, wenn sie dabei erwischt werden, aber wir haben Angst, dass unsere Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird deswegen.
Ich hoffe auch, dass ich mit dem Pass wieder ein Gefühl von Sicherheit habe. Einmal sind wir nach Bulgarien gereist mit Freunden. Am Flughafen waren mein Bruder und ich die einzigen, die festgehalten wurden, weil wir nur einen blauen Pass haben für Geflüchtete, nicht den roten für Deutsche. Aber wenn mir etwas in Bulgarien passiert, gibt es niemanden, der sich darum kümmert. Ich bin nur einer von vielen Ausländern.
Dafür, dass Deutschland uns geholfen und uns aufgenommen hat, bin ich sehr dankbar, trotz aller schlechten Erfahrungen. Deshalb versuche ich immer zu beweisen, dass es richtig war, uns aufzunehmen, dass sie guten Menschen geholfen haben, dass es kein Fehler war.
Die Angst der anderen
Ich versuche immer, offen auf andere zuzugehen. Das war schon als Kind so, hat meine Mutter erzählt. Ich wäre immer davon ausgegangen, dass alle es so gut mit mir meinen wie ich mit ihnen. Eine Zeit lang fiel es mir schwer, diesen offenen Blick zu behalten. Da habe ich gedacht, alle Deutschen denken schlecht über mich, weil ich aus Syrien komme.
Zum Beispiel habe ich oft erlebt, dass Frauen Angst vor mir haben, nur weil ich dunkle Haare und einen Bart habe. Einmal ging eine Frau vor mir, tagsüber, etwa Mitte 30. Als sie mich gesehen hat, hat sie ihre Tasche an sich gepresst und sich zur Seite gestellt, damit ich an ihr vorbeigehen kann und sie hinter mir laufen kann.
Und vor Corona habe ich es in der Straßenbahn oft erlebt, dass niemand sich neben mich gesetzt hat, wenn neben mir ein Platz frei war. Ich kann die Angst vor allem von Frauen sogar verstehen, aber ich glaube, sie verstehen nicht, wie sich das für mich anfühlt.
Ali Issa, 26, hat in Syrien Elektrotechnik studiert und befindet sich in Ausbildung zum Kinderpfleger. Er engagiert sich wie die Autorin des Protokolls ehrenamtlich bei „Fluchtraum“ in Bremen und berät dort junge Geflüchtete.
Protokoll: Eiken Bruhn
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