Ramadan-Auftakt in Istanbul: Politisiertes Teravih-Gebet

Zum ersten Mal seit fast 90 Jahren wird in der Hagia Sophia der Ramadan-Auftakt zelebriert. Für Präsident Erdoğan ist es eine Machtdemonstration.

Hunderte von Menschen knien zum Gebet im großen Saal der Hagia Sophia

Fanal gegen die Trennung von Islam und Staat: Gebet in der Hagia Sophia am vergangenen Freitag Foto: ap

ISTANBUL taz | In der Nacht zu Samstag, dem Beginn des diesjährigen muslimischen heiligen Fastenmonats Ramadan, hat die Hagia Sophia in Istanbul den größten Ansturm von Gläubigen seit 88 Jahren erlebt.

Vor zwei Jahren, im Juli 2020, hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret das bekannteste Wahrzeichen Istanbuls, die Hagia Sophia (Kirche der göttlichen Weisheit) von einem Museum wieder in eine Moschee umwandeln lassen. Doch damals, zum ersten Freitagsgebet, an dem die Muslime wieder die Herrschaft über die Hagia Sophia übernahmen, war der Auflauf der Gläubigen noch durch die Pandemie gedämpft.

Am Freitagabend letzter Woche, zum ersten Teravih-Gebet des beginnenden Ramadan, war das anders. Erstmals nach 88 Jahren strömten die Massen wieder ohne Beschränkung in den ältesten Sakralbau Istanbuls. Zum Gebet aufgerufen hatte der Chef des Amtes für religiöse Angelegenheiten (Dianet) Ali Erbas, der schon vor zwei Jahren im Sommer mit einem Schwert in der Hand auf der Kanzel gestanden hatte.

Wohl mehr als 2.000 Menschen, ganz überwiegend Männer, knieten in der Nacht zum Ramadan auf den blauen Teppichen, die heute den uralten Marmorfußboden der einstigen Kirche verdecken.

Die Türkei soll wieder ein islamischer Staat sein

Auch die christlichen Mosaiken im Altarraum waren mit großen Tüchern zugehängt. So erhebend dieser Moment für die Islamisten weltweit gewesen sein mag, für die Anhänger der säkularen türkischen Republik, aber vor allem für die orthodoxen Christen in Istanbul und Griechenland, sind die Bilder der betenden Menge in der früheren größten christlichen Kirche weltweit immer noch ein Schock.

Für Erdoğan, Ali Erbas und die islamischen Sektenanhänger, die vorwiegend in die Hagia Sophia strömten, ist es eine Machtdemonstration. Hatte die türkische Republik die im 6. Jahrhundert erbaute Hagia Sophia, die seit der Eroberung Konstantinopels 1453 als Moschee genutzt wurde, in den 30er Jahren in ein Museum umgewandelt, um die Trennung von Religion und Politik zu unterstreichen, will Erdoğan nun genau das Gegenteil demonstrieren: Die Türkei soll wieder ein islamischer Staat sein.

Doch auch in diesem Jahr wird die Machtdemonstration in der Hagia Sophia erneut von anderen Themen überdeckt. Der Angriff Russlands auf die Ukraine und selbst die abflauende Pandemie haben einen weit größeren Einfluss auf den Verlauf des diesjährigen Ramadan in der Türkei.

Obwohl in Ländern wie Saudi-Arabien, wo sich in diesem Jahr wieder Tausende Pilger ver­sammelten, und in Ägypten alle Pandemiebeschränkungen aufgehoben wurden, bleibt die Türkei vorsichtig. Auch in diesem Jahr gibt es keine öffentliche Armenspeisung beim abendlichen Fastenbrechen. Die großen Zelte, die vor der Pandemie in allen Stadtteilen Istanbuls aufgebaut wurden, damit die Leute dort kostenlos ihr Iftar-Essen einnehmen konnten, fehlen in diesem Jahr erneut.

Stattdessen bilden sich lange Schlangen vor den kommunalen Brotläden, wo am Abend zu einem geringen Preis die frischen Pide, das spezielle Ramadan-Brot ausgegeben wird.

Nicht das Gebet in der Hagia Sophia, sondern die nicht zuletzt durch den Krieg dramatisch gestiegenen Lebensmittelpreise dominieren den Ramadan. Denn, so komisch es sich angesichts des Fastenmonats anhört: Zu keiner Zeit im Jahr werden so viele Lebensmittel gekauft wie zum Ramadan. Nur dass die dann eben nachts, und nicht tagsüber verzehrt werden.

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