"Radar.Institut" am Kieler Theater: „Den Rahmen sprengen“
Öffentliches Theater plus freie Kräfte ergibt Institut, genauer „Radar.Institut“: So heißt das gemeinsame Projekt des Kieler Theaters mit der Gruppe Lunatiks aus Berlin. Zusammen wollen sie Kiel sichtbar machen – mit Hilfe von Rentnern, subversivem Kuchenessen und zuhörenden Mülltonnen.
taz: Herr Paulsen, das „Radar.Institut“ bestückt Mülltonnen mit Aufnahmegeräten. Kieler öffnen den Deckel, sprechen hinein, das Gesagte wird dann zu einem Opernlibretto verarbeitet. Hätte es eine weitere Spielzeit lang Hamlet nicht auch getan?
Jens Paulsen: Man versucht ja immer zwei Sachen an einem Stadttheater. Auf der einen Seite, einen Spielplan abzubilden, der möglichst breit gefächert ist, vom Weihnachtsmärchen bis zum Gegenwartsstück. Hamlet aber kann man in jeder Stadt machen. Stadttheater müssen sich die folgende Grundsatzfrage stellen: Was bedeutet es, in der Stadt, in der man ist, Theater zu machen? Die Antwort ist das Trademark des Stadttheaters. Die Verortung der Geschichten als Exklusivität.
Frau Mickan, welcher Gedanke steckt hinter der Bezeichnung als „Institut“?
Janette Mickan: Das „Radar.Institut“ lehnt sich an das Prinzip der Bürgerbühne an, wonach bestimmte Geschichten in einer Stadt bereits existieren. Wir müssen diese nicht mehr erfinden, aber sichtbar machen müssen wir sie. So sind wir auf den Namen gekommen. Ein Radar macht Dinge erkennbar, die im Prinzip schon da sind. Unser Institut ist ein theatraler Ortungsapparat, eine Apparatur der Sichtbarmachung. Wir sind Forscher in einem fremden Biotop, das Radar.Institut ist in dieser Hinsicht unser Experimentierfeld.
Mal abgesehen von der Wertstofftonnen-Gala: Welche Wege der Sichtbarmachung gibt es noch?
Mickan: Das „Logbuch Kiel“, bei dem Menschen etwas über ihren Alltag hineinschreiben und das in einer Mamutlesung von Schauspielern vorgetragen wird. Dann die „Urban Scouts“: Jugendliche fragen Kieler Wohin geht’s? – Mit unserer Heimat? Mit unseren Träumen? Oder die „Kuchenguerilla“, mit der verschiedene Kieler Institutionen „geentert“ werden sollen.
Der Doppelpass-Fonds ist ein Pilotprojekt der Bundeskulturstiftung: Er fördert gezielt die Kooperation von den bundesweit etwa 1.000 freien Theatergruppen und rund 150 festen Tanz- und Theaterhäusern über jeweils zwei Spielzeiten.
Gefördert wird jedes Projekt mit 150.000 Euro. Das beteiligte feste Haus muss sich mit Eigenmitteln in Höhe von 10 Prozent der Fördersumme sowie weiteren Eigenleistungen beteiligen.
Wir befinden uns in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs. Theater darf die Wirklichkeit abbilden. Wollen Sie mit Ihren Projekten lediglich dokumentieren, oder dienen sie auch als Werkzeug, sagen wir: für eine aktive Umdeutung alter Werte?
Paulsen: Unsere Projekte sind vor allem ein Interpretationsangebot. Meinungsanstöße kann man nur geben, wenn man die Aussage offen lässt. Ich finde es gut, Denkanstöße zu geben, aber ohne erhobenen Zeigefinger. Wir dokumentieren und bieten ein „dabei-sein“.
Mickan: Ob tatsächlich eine Umwertung stattgefunden hat oder nicht, lässt sich natürlich schlecht nachweisen. Aber wir regen dazu an. Bei der Kuchenguerilla gibt es das schnöde Kaffeetrinken, das wir als Kampftechnik nutzen. Das ist ja auch eine Neubewertung einer alten Kulturtradition, abgespeichert unter der Vorstellung, dass sich Omis treffen, tratschen, Kaffee trinken und Torte essen. Jetzt wird es als Kampfmittel eingesetzt, um die Perspektive zu ändern. Es geht nicht darum, zu bewerten, sondern Zustände sichtbar zu machen.
Kerstin Daiber, 30, ist Dramaturgin am Theater Kiel. Sie studierte Tanz- und Schauspieldramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding sowie an der Universität im niederländischen Utrecht.
Janette Mickan, 30, ist Dramaturgin der Berliner Gruppe Lunatiks und Kuratorin des gemeinsam mit dem Theater Kiel betriebenen Radar.Institut. Sie studierte Theater- und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Kristin Päckert, 27, ist Dramaturgin am Theater Kiel. Beim Radar.Institut verantwortet die Berlinerin das Projekt "Kuchenguerilla".
Jens Paulsen, 42, ist Dramaturg am Theater Kiel. Er studierte ebendort Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Germanistik, Geschichte sowie Kulturmanagement.
Über welchen Zustand reden wir jetzt genau?
Kristin Päckert: Der Alltag heutzutage ist hektisch und schnelllebig. Was die Kuchenguerilla versucht, ist, das Ganze zu entschleunigen. Das geschieht beispielsweise, wenn man von den Omis angesprochen und zum Kaffee eingeladen wird, an Orten, an denen man es nicht erwartet und in Situationen, in denen es vielleicht besonders hektisch zugeht: im Fahrstuhl eines Großkonzerns oder im Foyer einer Bank. Wie unterhalten sich Menschen, die unter veränderten zeit-ökonomischen Faktoren leben?
Das Theater Kiel und Lunatiks haben bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Welche Vorteile ergeben sich aus dieser längerfristigen Kooperation?
Paulsen: Über einen Zeitraum von zwei Jahren kann man andere Formen ausprobieren, die man im Stadttheater sonst nicht ausprobieren kann: Welche Theaterformen gibt es, die den Rahmen der Bühnensituation sprengen? Oder: Gibt es Darstellungsformen, die der Wirklichkeit heute angemessener sind als andere? Kurz, wir haben unser Portfolio erweitern können. Außer den Bühnenproduktionen haben wir jetzt viele Performances im öffentlichen Raum.
Und was hat eine ortsfremde Gruppe wie die Lunatiks von der Zusammenarbeit in Kiel?
Mickan: Es gibt ja eine Bewegung weg vom Bildungsbürgertum, das im Prinzip immer wieder Schiller sehen möchte, hin zu den Leuten. Und zu der Frage: „Was haben die Menschen eigentlich zu erzählen?“ Durch die Distanz, die wir zu Kiel oder anderen Städten haben, können wir Selbstverständlichkeiten neu wahrnehmen. So erreichen wir für die Kieler eine neue Sensibilität zu ihrer Stadt. Um eben nicht zu sagen: Das ist die Kunst, und die Kunst sagt euch, was richtig ist und was falsch.
Päckert: Ein weiterer Vorteil ist ja auch, dass man Theater nicht nur für diejenigen zugänglich macht, die sowieso schon ins Theater gehen. Sondern dass man durch die Projekte andere Zielgruppen erreicht. Das sind Leute, die mit den Projekten plötzlich, vielleicht beim Einkaufen, in Berührung kommen und so einen neuen Zugang zum Theater und ihrer Stadt finden. Es geht auch darum, das Stadttheater zu den Leuten zu tragen.
Jenseits vom Inhaltlichen geht es auch um eine Strukturdebatte: Nach zwei Jahren wird die Bundeskulturstiftung ihre Schlüsse ziehen aus diesem Pilotprojekt. Wie schätzen Sie Ihre Ergebnisse ein, jetzt nach der ersten Halbzeit?
Paulsen: Es ist anders, als ich erwartet habe, ohne dieses „anders“ positiv oder negativ werten zu wollen. Am Anfang dachte ich, dass das Radar.Institut in Kiel noch bekannter werden muss. Dass es mehr Leute erreichen muss, um die komplette Stadt Kiel abzubilden. Aber das stimmt nicht. Ich glaube, einzelne Projekte zu machen mit bestimmten Kielern – seien es zehn Rentner oder zehn Jugendliche oder Leute, die in die Wertstofftonnen sprechen: Das ist viel nachhaltiger, als wenn 240.000 Leute alle einmal von uns gehört haben.
Kerstin Daiber: Aber dass das Radar.Institut seine Spuren in Kiel hinterlässt, hat unser Jugendclub-Projekt gezeigt, in dem mit theatralen Formen experimentiert werden kann. Wir hatten damals zehn Anmeldungen. Es hat sich dann weiter rumgesprochen und durch die Stadt gefräst. Die Nachfrage war nach Ende der Spielzeit so groß, dass das Theater Kiel einen Jugendclub gegründet hat, der mit Hilfe einer Theaterpädagogin und einer Dramaturgin weitergeführt wird. Die Anmeldungen haben sich mittlerweile verdreifacht.
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