Rad-Sternfahrt in Berlin: „Den Autos den Platz wegnehmen“
Am Sonntag werden Radfahrende für mehr Sicherheit auf der Straße demonstrieren. Die Zahl der Autos muss schnell sinken, sagt ADFC-Chef Frank Masurat.
taz: Herr Masurat, am Sonntag findet die 46. Sternfahrt statt. Wie lange will der ADFC diese Protesttour noch organisieren?
Frank Masurat: Aus politischer Sicht müssen wir das sicherlich noch Jahrzehnte machen. Es geht ja darum, die Verkehrswende umzusetzen.
Die jährliche Sternfahrt mit ihren Zehntausenden Teilnehmer*innen ist ja mehr als eine Demo, es ist längst eine Art radpolitisches Happening.
Wir sprechen damit neue Zielgruppen an, die merken, wie entspannt, sicher und schnell man auf dem Rad durch die Stadt fahren kann, wenn der Kfz-Verkehr wegfällt und man nicht an jeder Ampel steht. Das motiviert die Menschen, mehr Rad zu fahren. Zusätzlich haben wir eine starke politische Botschaft: Denn vor dem Hintergrund der Klimakrise muss die Verkehrswende jetzt deutlich schneller umgesetzt werden.
Das ist auch das Motto der Sternfahrt in diesem Jahr: „Verkehrswende jetzt umsetzen!“ Was die angeht, hat der ADFC eine sehr kritische Bilanz gezogen nach den ersten fünf Jahren Rot-Rot-Grün. Was ist da schiefgelaufen?
Erst mal ist es gelungen, 2018 das Mobilitätsgesetz zu verabschieden – das war ein Riesenerfolg. Doch auf der Straße ist dramatisch wenig passiert.
Oftmals handelt es sich auch noch um Stückwerk.
Frank Masurat ist seit 2021 Berliner Landesvorsitzender des ADFC. Zuvor war er im Vorstand für Finanzen und Politik zuständig.
Ja, mal werden ein paar Hundert Meter sicherer dank eines frisch gebauten Radwegs – und wir feiern auch jeden neuen Meter. Aber wir fordern Kilometer statt Meter.
Woran liegt die Langsamkeit?
Um die im Mobilitätsgesetz vorgeschriebenen Verbesserungen – also neue Radwege und -spuren – wirklich auf die Straße zu bekommen, hätten die Strukturen und Prozesse in den Verwaltungen verbessert werden müssen. Da ist viel zu wenig passiert, und es fehlte an Personal.
Und jetzt?
Inzwischen ist die Situation deutlich besser. Neben dem Mobilitätsgesetz gibt es seit letztem Jahr den Radverkehrsplan: eine Rechtsverordnung, die vorschreibt, wie die Stadt Radwege zu bauen hat, mit klaren Prioritäten auf einem Vorrangnetz mit insgesamt 900 Kilometern. Diese Mindestvorgaben für den Radverkehr müssen umgesetzt werden. Vor allem ist es wichtig, die Radwege als Netz zu denken, nicht mehr jeden Radweg einzeln.
Wird die Umsetzung so besser klappen?
Das wird man sehen. Was wir vermissen, sind klare Verantwortlichkeiten, ein Monitoring und ein Controlling. Das ist wichtig, damit die Senatorin oder die Staatssekretärin sagen kann, wo wir stehen, wo es Abweichungen gibt und was getan werden muss, um die Abweichung in den Griff zu bekommen.
Sie haben die Senatorin angesprochen. Fünf Jahre lang war es Regine Günther, jetzt ist es Bettina Jarasch (beide Grüne). Merken Sie eine Veränderung?
Wir haben sehr intensive Gespräche mit Regine Günther in den fünf Jahren geführt – aber es hat nicht wirklich etwas bewegt. Mit Bettina Jarasch haben wir noch kein intensives Gespräch gehabt.
Nachdem sie schon fast ein halbes Jahr im Amt ist?
Wir haben mehrfach um Termine gefragt, aber bis jetzt ist das noch nicht zustande gekommen. Ich nehme an, dass Frau Jarasch sich supergut vorbereitet auf unsere Fragen zum Thema Monitoring und Controlling – und dass es deswegen etwas länger dauert.
Inzwischen laufen ja die Planungen für den Umbau mehrerer berüchtigter Strecken, etwa der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg. Dort sollen Radler*innen mehr Raum bekommen auf Kosten der Autos, aber auch auf Kosten von Bussen und Tram. Und auch Fußgänger*innen kritisieren, dass ihre Belange nicht genug berücksichtigt werden. Wird da der aktuelle Konflikt nur verlagert?
Wir brauchen weniger Autos in der Stadt, denn im Verkehrsbereich ist der Klimaschutz bisher auf der Strecke geblieben. Die Zahl der Autos nimmt sogar weiterhin zu, sie werden größer und schwerer, nehmen immer mehr Platz weg und sorgen für zwei Drittel der Emissionen im Verkehrssektor. Wir müssen die Privilegierung des Autos und dessen Platzbedarf korrigieren.
Das beantwortet nicht die Frage. Manche sagen, dass die Radler*innen nun die Privilegierten sind, auf Kosten des ÖPNV und der Fußgänger.
Nein. Wir als ADFC fordern ein strukturiertes Vorgehen; im Mobilitätsgesetz und im Radverkehrsplan ist ein Vorrangnetz für den Radverkehr festgeschrieben. Das gilt auch für den ÖPNV, und das kann man auch für den Fußverkehr überlegen. Als Organisation für Radfahrer*innen verstehen wir uns als Teil des Umweltverbunds. Es macht keinen Sinn, zwischen ÖPNV und Radverkehr zu streiten, sondern wir müssen die Probleme gemeinsam lösen. Und es muss immer damit enden, dass der Platz dem Kfz-Verkehr weggenommen wird.
Das heißt, Sie unterstützen das Volksbegehren Berlin autofrei, das den weitgehenden Ausschluss von Autos aus der Innenstadt fordert?
Jedes Jahr Anfang Juni findet die sogenannte Sternfahrt des ADFC statt, eine der größten Raddemos Deutschlands. Aus allen Himmelsrichtungen fahren Radler*innen auf den Großen Stern zu, wo zum Abschluss das Umweltfestival stattfindet. Höhepunkt der Raddemo sind die Fahrten über die Autobahn, die dafür gnädigerweise von der Berliner Polizei gesperrt wird.
Das war bisher eine total spannende Diskussion, wie wir eine autoarme Stadt umsetzen können. Das brauchen wir nicht zuletzt, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen: Wir haben ein toxisches Verkehrssystem, wir töten regelmäßig Menschen, darunter viele Radfahrende und ungeschützte Teilnehmer*innen. Sie werden getötet mit Kfz. Weniger Kfz bedeuten also weniger Verkehrstote.
Aber noch mal konkret gefragt: Unterstützt der ADFC dieses Volksbegehren? Die Grünen zum Beispiel tun das nicht.
Ja, das politische Ziel unterstützen wir. Es gibt bisher gar keine offiziellen Unterstützer des Volksentscheids.
Und Sie würden auch Ihre Mitglieder dazu aufrufen, dafür zu unterschreiben?
Ich persönlich würde unterschreiben; ob wir alle Mitglieder dazu aufrufen, kann ich jetzt nicht alleine entscheiden. Aber wir würden bei der Organisation helfen, etwa Unterschriften sammeln.
Werfen wir einen Blick zurück auf die Pandemie. Für den Radverkehr hat die sogar einige Vorteile gebracht, denn mit den viel beachteten Pop-Up-Bike-Lanes wurden zahlreiche Radwege an gefährlichen Straßen spontan eingerichtet und inzwischen verstetigt. Braucht es eine solche Notlage, um eine Notlage auf der Straße zu beheben?
Ich würde das ein Stück weit relativieren. In der Coronazeit hat der Fahrradverkehr ganz stark zugenommen. Aber es war so, dass da genau ein Bezirk schnell reagiert hat – und seitdem ist nicht viel passiert. Im Ergebnis geht es um 20 bis 30 Kilometer: Das ist marginal wenig im Vergleich zu den 1.600 Kilometern Radwegen, die laut Mobilitätsgesetz an den Hauptstraßen gebaut werden müssen. Wir bräuchten das Tempo zur Anfang der Pandemie in jedem Bezirk die ganze Zeit.
Was lernen Sie daraus?
Das Pop up-Verfahren ist super. Und solange wir diese dysfunktionale Verwaltung haben, ist es das Mittel der Wahl. Wir können mit temporären Maßnahmen schnell Veränderungen im Straßenraum ausprobieren, dazulernen, auch mal Fehler machen. Und erst dann kommen die Bagger. Dieses Verfahren kann man auch für andere Infrastruktur anwenden, zum Beispiel Busspuren.
Glauben Sie nicht, dass gegen diese Methode geklagt würde mit dem Argument: Trial and Error im Straßenverkehr – das geht nicht?
Auch gegen die Pop-Up-Radwege haben Vertreter einer rechtsradikalen Partei geklagt – und am Ende des Tages zurückgezogen wegen Aussichtslosigkeit. Jede Veränderung im Straßenraum wird ganz offensichtlich von interessierten Kreisen verklagt. Aber ich bleibe dabei: Wir müssen Fehler machen, und wir müssen Fehler schnell machen, denn je eher wir einen Fehler machen und das erkennen und korrigieren, desto besser werden wir. Dafür braucht es aber auch eine andere Fehlertoleranz in der Stadt – auch beim ADFC und den Medien. Wenn wir diese Toleranz hätten, würde sich auch die Verwaltung viel mehr trauen. Derzeit herrscht dort der Geist, ja keine Pannen zu produzieren. Und das hemmt die Arbeit und den Fortschritt.
Apropos trauen: Seit gut einer Woche gibt es das 9-Euro-Ticket. An Pfingsten hat sich gezeigt: Die Mitnahme von Fahrrädern den Regionalbahnen von und nach Berlin war oft wegen Überfüllung unmöglich. Diese mangelnden Kapazitäten werden seit Jahren kritisiert, aber es ändert sich auch da nichts.
Das 9-Euro-Ticket ist ein super Erfolg, weil es zeigt, dass die Nachfrage da ist. Aber die Kapazität ist katastrophal schlecht. Wir müssen den ÖPNV ausbauen.
Aber warum passierte das nicht: Warum werden nicht Waggons angeschafft, die flexibler sind und mehr Raum für Räder oder auch Rollstuhlfahrer*innen haben – das wird doch seit 20 Jahren gefordert? Denn wenn man nicht weiß, ob man abends wieder zurück nach Berlin kommt, fährt doch niemand mit Bahn und Rad raus.
Absolut richtig. Aber das hat nicht unbedingt nur mit dem Neun-Euro-Ticket zu tun. Das ist ein Versäumnis über Jahrzehnte. Die Bahn wurde runtergespart. Und wenn ich die Züge verlängern will mit weiteren Waggons – was der einfachste Weg ist, um die Kapazität zu erhöhen –, dann muss man auch Bahnsteige auf der ganzen Strecke haben, die entsprechend lang sind. Und das sind nicht alle. Dabei bringen die Touristen ja auch Umsatz in die jeweilige Region und auch Umsatz für die Deutsche Bahn, weil die Fahrradmitnahme ja extra kostet.
Kommen wir noch mal zur Sternfahrt zurück. Mit wie vielen Teilnehmenden rechnen Sie am Sonntag?
Wir erwarten gutes Wetter, wir haben breit mobilisiert. Ich würde mal sagen, eine mittlere fünfstellige Zahl.
Jedes Jahr gibt es die detaillierten Pläne mit Abfahrtszeiten, die allerdings selten stimmen. Warum eigentlich?
Wir haben 80 Startpunkte, die Verzögerungen gibt es im Wesentlichen an den Autobahnauffahrten. Wie stark, das hängt von der Polizei ab. Manchmal sperrte sie die Autobahn erst, wenn alle Zubringergruppen da waren. Das führte bei denen, die zuerst da waren, zu Verzögerungen. Aber in den letzten Jahren ist es besser geworden. Denn wir müssen aufpassen: Wenn da Tausende stundenlang in der Sonne warten, kippen uns die Leute um.
Auch durch den Britzer Tunnel darf nicht mehr gefahren werden.
Der Tunnel wurde aus Sicherheitsgründen – so die Begründung – nicht mehr für die Sternfahrt und andere Demos freigegeben. Dafür fahren wir in der Summe ein längeres Stück auf der Autobahn von der Oberlandstraße bis zum Dreieck Funkturm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin