Queere Stimme in der sächsischen Provinz: „Es ist Zusammenhalt und Hassliebe“
Ocean Hale Meißner engagiert sich in Döbeln für queere Menschen. Ein Gespräch über Heimatliebe trotz Nazis und Aktivismus in der Minderheit.
Kennengelernt haben wir uns auf dem taz lab Ende April in Berlin, dort war Ocean Hale Meißner zu Gast auf einem Panel mit dem Titel „Was auf dem Spiel steht“. Dabei war Meißner ein mächtig guter Ruf vorausgeeilt, in Sachsen, überhaupt im Osten der Republik: als streitender Mensch für die Sache der Demokratie – und zwar besonders in Döbeln, Meißners sächsischer Heimatstadt. Dort verabreden wir uns zum Gespräch, das im Mai stattfindet, noch vor den Europa- und Kommunalwahlen, und auch vor dem Mord an einem neunjährigen ukrainischen Mädchen, der Döbeln Mitte Juni deutschlandweit in die Schlagzeilen bringt.
Am Bahnhof holt Ocean Hale Meißner mich ab, schicke Sonnenbrille, der Innenraum des Autos übersät mit CDs, Rock, Punk, Metal. Es läuft: Led Zeppelin, „Whole Lotta Love“, die Fenster offen. Auf dem Marktplatz träges Treiben. Meißner, 26, ist eine stadtbekannte Figur und wird bis zum Café, wo wir miteinander reden, bestimmt von einem Dutzend Menschen gegrüßt.
Geboren 1997 in Leisnig bei Döbeln. Pronomen: keine. Ausbildung: in der Augenoptik und Bestattungsbranche. Engagement: in neun Initiativen, Vereinen und Bündnissen, u. a. in Queeres Döbeln und in „Döbeln bleibt bunt“. Ocean Hale Meißner ist am 23. Juni, Sonntag, beim taz Panter Forum in Erfurt zu Gast. Das Thema: Aktivismus im ländlichen Raum.
wochentaz: Ocean Hale Meißner, was bedeutet Ihnen das schöne Städtchen Döbeln?
Ocean Hale Meißner: Es ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, mich entfalten konnte und auch nach wie vor lebe. In dieser Gegend hatte ich eine wundervolle Kindheit, anfangs auf dem Dorf, und auch eine aufregende Jugend. Hier in Döbeln bin ich zur Schule gegangen, habe gelernt und gearbeitet. Und hier wohnen meine Familie und ein großer Teil meines Freundeskreises. Unzählige schöne Momente, aber leider auch mehr als genügend unschöne.
Würden Sie sagen, Döbeln ist Ihre Heimat?
Ja. Ich finde es schade, dass das Wort Heimat so negativ besetzt ist, ich benutze es nicht oft, aber ehe rechte Akteure es uns wegnehmen, sag ich es lieber selbst. Ich verspüre keinerlei Patriotismus, aber ich kann mich mit der Region identifizieren.
Es sind so viele junge Menschen aus Gegenden wie dem ländlichen Sachsen weggegangen. Sie aber nicht.
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Warum auch? Ich mag die Region ja. Wir haben hier eine wunderschöne Natur, eine interessante Kultur und sogar eine Subkultur, das ist für das ländliche Sachsen nicht selbstverständlich. Nur die Ansichten und das Verhalten einiger Bewohner*innen trüben das Gesamtbild.
Zwei Worte, um Ihr Leben in Döbeln zu beschreiben?
Zusammenhalt und Hassliebe. In einer Kleinstadt wie Döbeln kennt man sich untereinander. Das hat viele Vorteile, aber auch einige Nachteile. Natürlich kennen mich auch die Rechten. Sie wissen, wo ich wohne, welches Auto ich fahre, und sind stets auf dem neuesten Stand meiner Aktivitäten.
Ängstigt Sie dieses Wissen?
Logischerweise lässt mich so etwas nicht kalt. Es gab ja auch schon genügend Drohungen, Hassnachrichten – und mir wird deutlich gemacht, dass sie mich im Blick haben. Trotzdem lasse ich mich nicht einschüchtern und führe mein Alltag wie gewohnt weiter, wenn auch mit gewissen Vorsichtsmaßnahmen.
Was hat Sie zum Aktivismus gebracht?
Ich bin, vermute ich, in einer politisch recht stabilen Zeit aufgewachsen. Geboren nach der Wende, die Baseballschlägerjahre waren in meiner Jugend zum Glück vorbei. Die Geschichten aus dieser Zeit haben mich trotzdem geprägt. Meine Schulzeit auf dem Gymnasium war sehr schön, da meine Schule ziemlich links war, und meine Freizeit verbrachte ich mit Freund*innen in der Natur oder in alternativen Jugendzentren. Ich bin jetzt mit 26 Jahren immer noch dankbar für Orte wie das Jugendhaus Roßwein, das AJZ Leisnig, das Treibhaus und die Skatehalle in Döbeln. Sie haben meine weltoffene Einstellung bestärkt. Mein Outing wurde von Familie und Freund*innen entspannt aufgenommen. Trotzdem wurde mir irgendwann bewusst, dass nicht alle linken oder queeren Personen eine angenehme Jugend im sächsischen Hinterland hatten. Für solche Menschen wollte ich da sein und ihnen eine Stimme geben.
Gab es denn vor zehn Jahren, als Sie jugendlich waren, keine Rechten?
Doch schon, aber die haben zu der Zeit halt ihr Ding gemacht und wir unseres. Es war nicht gesellschaftlich geduldet, rechts zu sein. Die haben sich hauptsächlich im Untergrund aufgehalten. Okay, ich spreche jetzt für Döbeln, das konnte schon zwei Dörfer weiter ganz anders aussehen. Deprimierend ist – und das macht mich echt fertig –, dass diese Verhältnisse sich geändert haben. Es gibt seit einigen Jahren einen krassen Rechtsruck, überall.
Was hat diesen Umschwung bewirkt?
Das Aufkommen der AfD, klare Sache. Außerdem die Coronaproteste gegen angebliche Zwangsimpfungen, Querdenker, Reichsbürger, der Zuzug völkischer Siedler – eine ganz üble Mischung aus vielem. Und die Intelligenteren von diesen unangenehmen Mitmenschen wissen leider, wie man die Gegend unterwandert. Sie besetzen Positionen in Heimat- und Sportvereinen oder dem Elternrat der Schule, treten der Freiwilligen Feuerwehr bei und geben sich nach außen bürgerlich und demokratisch. Doch im Hintergrund organisieren dieselben Menschen rechtsextreme Demos, Jugendcamps, die an jene der Hitlerjugend erinnern, oder Rechtsrockkonzerte. Und dann gibt es da noch den Nachwuchs der Nazis der Baseballschlägerjahre, der tritt jetzt in die Fußstapfen seiner Eltern und bildet neue Straßenschlägertrupps.
Ein Generationswechsel?
Genau. Sie diskriminieren, greifen an, grenzen aus. Früher waren es hauptsächlich Geflüchtete und linke Menschen, „Zecken und Punks“, die sie im Blick hatten. Heute reicht es schon, dass du für grüne Politik eintrittst, für Fridays for Future, dass du vegan lebst oder bunte Kleidung trägst. Auch die queere Community ist zu einem Hauptfeindbild geworden.
Aber queeres Leben gab’s doch auch im ländlichen Raum schon immer.
Aber eher unter der Hand, diskret, privat. Das ändert sich aber gerade. Zum Glück. 2019 waren es noch vier CSDs in Sachsen, dieses Jahr sind wir bei 20. Doch die steigende Aufmerksamkeit führt leider auch zu mehr Anfeindungen. Kaum ein CSD in Sachsen findet ohne rechte Angriffe statt. Teilnehmende werden beschimpft, geschubst, gefilmt oder mit Steinen beworfen. Regenbogenflaggen werden gestohlen oder verbrannt, queerfeindliche Sticker und Flyer verteilt, bei uns in Döbeln gab es auch Buttersäureanschläge an den Kundgebungsorten.
Aber mal grundsätzlich: Was führte dazu, dass Sie anders als andere für diese rechten Szenen nicht empfänglich waren?
Auch die Erziehung meiner Familie. Zwar war diese nie sehr an Politik interessiert, aber mir wurde eine weltoffene Lebenseinstellung vermittelt. Vorbild war für mich immer mein Großvater, der mir vorgelebt hat, dass es nicht darauf ankommt, ob du zum Beispiel arm bist oder reich. Das war ihm vollkommen egal, er ist allen Menschen respektvoll und auf Augenhöhe begegnet.
Sie reden auch mit allen?
Ich versuche es zumindest. Leider sind manche Personen so in ihrem rechten Weltbild gefangen, dass es nicht mehr möglich ist, miteinander zu sprechen. Bringt in solchen Fällen aber meistens eh nichts und kostet nur unnötig Energie. Mit allen anderen versuche ich ins Gespräch zu kommen, um vielleicht doch noch die ein oder andere Person von Werten wie Toleranz, Vielfalt oder Demokratie zu überzeugen, aber auch das wird immer schwerer.
Inwiefern?
Bis vor wenigen Jahren war es noch so, dass man mit Argumenten, Fakten oder wissenschaftlichen Statistiken wenigstens zum Nachdenken anregen konnte.
Und das geht nicht mehr?
Da hat sich viel verändert, nicht nur in Sachsen. Öfters hört man einen Satz wie: „Du hast deine Fakten, aber ich hab meine Meinung.“ Auch Statistiken werden bestritten, denn die sind ja alle vom „System“ oder „Staatsapparat“. Die Realität wird ignoriert oder angefochten. Das macht ein sinnvolles Gespräch fast unmöglich und mich persönlich sehr traurig und frustriert.
Was unterscheidet Sie und andere von rechten Menschen?
Hauptsächlich unsere Ansichten. In der linken Szene ist es nicht notwendig, immer die stärkste, härteste und coolste Person zu sein, es ist egal, welche Kleidung du trägst oder welche Personen du datest. Du darfst einfach du selbst sein. Das Miteinander in der rechten Szene ist da oft eingeengter. Und dann natürlich diese Abschottung, die Missgunst gerade Geflüchteten gegenüber, das Schubladendenken. Ich wollte mein Leben neugierig halten.
Manchmal leicht gesagt, oder?
Na okay, auch ich stecke Menschen manchmal mit dem ersten Eindruck in eine Schublade, das ist menschlich. Aber ich verschließe diese nicht, ich lass sie offen. Das wünsche ich mir auch von anderen: dass sie nicht zu schnell über mich urteilen.
Was bedeutet dieses Weltoffene für Sie?
Allen Menschen gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. Sie nicht nach Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder sozialer Schicht zu klassifizieren, sondern ihnen von Mensch zu Mensch zu begegnen und sich auf den Charakter zu konzentrieren. Lasst uns unsere Unterschiede genauso feiern wie unsere Gemeinsamkeiten.
Und die Reaktionen?
Auch viel Respekt. Dass ich Selbststärke hab, wenn ich ein farbenfrohes Hemd trage. Voll schön. So was in rechten Kreisen zu zeigen geht nicht. Da bist du dann voll die Schwuchtel. Aber selbst in diesem Schimpfwort hört man noch eine Spur Neid heraus: Der traut sich was!
Sie bezeichnen sich als nonbinäre Person – war es schwer, diese Identität nach außen zu zeigen?
Für mich selbst war das kein Problem. Ich brauchte kein typisches Coming-In oder Coming-Out. Es gab nie diesen Moment in meinem Leben, an dem ich mir sagte: Jetzt bist du anders als die anderen. Ich wollte nicht als Mann gelesen und verstanden werden, dieses ganze männlich-toxische Zeug war nie meins. Ist doch egal, ob du dich in einen Mann oder eine Frau verliebst, du verliebst dich in einen Menschen. Das war mir immer klar. Für meine Mitmenschen war das alles nicht so einfach zu verstehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und heute?
In Döbeln werde ich nach wie vor männlich gelesen. Niemand fragt hier nach deinen Pronomen. Meine Namensänderung war trotz Ergänzungsausweis ein Kampf und mein alter Name wird leider immer noch von Teilen der Familie und anderen im Alltag benutzt. Und der gesellschaftliche Rechtsruck macht das natürlich nicht besser. Die aktuellen Wahlumfragen zeigen das ziemlich deutlich und machen mir, ehrlich gesagt, Angst.
Aber es hat doch Demonstrationen für Demokratie gegeben?
Das stimmt. Aber bei einer Stadt mit 20.000 Einwohner*innen brauchen wir uns nicht allzu stark fühlen, wenn wir mit 400 Menschen auf der Straße stehen. Im benachbarten Waldheim haben wir es noch nicht ein einziges Mal geschafft, mehr zu sein als die Gegendemo von AfD und Freien Sachsen. Sicher wirkt es beruhigend, in einer Großstadt gemeinsam mit 50.000 Menschen zu demonstrieren, hier beruhigt gar nichts. Hier kannst du nicht in der Masse untergehen, hier zeigst du automatisch Gesicht.
In Leipzig muss eine Demo auch erst mal organisiert werden.
Klar, aber unter anderen Voraussetzungen. In den ländlichen Regionen hast du weniger Rückhalt, ob finanziell, personell oder technisch. Und wenn in Leipzig die Demo zu Ende ist, gehst du halt wieder in deine Bubble, in alternative Viertel, in vegane Restaurants oder queere Bars und das „normale“ Leben geht weiter. Bei uns wissen wir oft nicht, wo für uns geschützte Räume sind, man kann den Rechten nicht so einfach aus dem Weg gehen.
Helfen die Behörden nicht?
Die legen uns mehr Steine in den Weg, als dass sie helfen. Demoanmeldungen werden verkompliziert und Rückzugsorte nicht geschützt. Voriges Jahr haben wir auch die Döbelner Skatehalle verloren, eine ehemalige Tabakmanufaktur, 20 Jahre wurde sie mit aller Liebe von unserer Szene aufgebaut und genutzt. Sie war ein zweites Zuhause für viele in der Region, für Skater, Sprayer und Punks. Für Jugendliche, die ihre Freizeit nicht in rechten Dorfclubs verbringen wollten, und Kinder, die dort Workshops besuchten. Jetzt wird sie abgerissen für Parkplätze des neuen Jobcenters. So sieht hier die Realität aus. Mit dieser Halle ist ein erheblicher Faktor unserer Subkultur in Döbeln verlorengegangen, ein Stützpunkt gegen die rechte Allmacht. Das raubt mir, und nicht nur mir, so viel Kraft.
Schaffen Sie Ihre Aktivitäten überhaupt, wenn Sie noch arbeiten müssen?
Da ich mittlerweile in neun Vereinen und Bündnissen aktiv bin, ist der Aktivismus zu einem Fulltimejob für mich geworden. Ursprünglich habe ich im Handwerk gearbeitet, gelernt in der Augenoptik und der Bestattungsbranche. Ich würde auch gerne irgendwann wieder zurück in die Bestattung gehen, da es von klein auf mein Traumberuf war. Es war und ist mir eine Freude, Menschen in schwerer Zeit Kraft geben zu können. Aktuell würde ich aber nicht beides unter einen Hut bekommen, und der Aktivismus wird einfach dringender benötigt.
Mit Ihren brückenbauerischen Kompetenzen könnten Sie hauptberuflich doch bei einem sozialkulturellen Zentrum arbeiten?
Würde ich ja gerne. Aber dafür bräuchte ich einen Studienabschluss. Dafür müsste ich aus Döbeln weg. Und das will ich nicht.
Welche Hilfe wünschen Sie sich von Gleichgesinnten aus der Großstadt?
Wir sind froh über jede Unterstützung, die wir bekommen können. Menschen, die uns auf Demos supporten, um „Wir sind mehr“ auch in der Provinz zur Realität zu machen. Menschen, die unsere Arbeit finanziell unterstützen können. Personen aus Musik, Kunst, Kultur oder Politik, die uns vor Ort besuchen. Es gibt viele Möglichkeiten.
Und Support aus Döbeln?
Der ist genauso wichtig, denn letztendlich können die Menschen aus der Großstadt auch nicht für uns wählen gehen. Personell wird es auch immer kritischer, denn leider ziehen viele stabile Leute nach der Schule weg. Sie wollen die Welt erkunden, einfach mal einen Tapetenwechsel oder vor der politischen Situation hier entfliehen. Kann ich alles verstehen, das macht es denen, die hier bleiben, aber nicht einfacher.
Ziehen nicht auch viele wieder zurück?
Dann haben sie andere Prioritäten im Leben. Die Familie, die Arbeit, der Haushalt, der Garten, wo bleibt da noch Zeit für Aktivismus? Man will sich sowieso nicht positionieren. Nicht die Schulen, Kindergärten, Kirchen, Firmen: bloß keinen Ärger. Aber ohne Kämpfe für die Demokratie, und seien sie nur symbolisch, schaffen wir es gegen die rechte Dominanz nicht.
Sie sind kein bisschen optimistisch?
Das ist an sich schon meine grundsätzliche Gemütslage, aber im Hinblick auf die nächsten Wahlen fällt mir das leider sehr schwer. Dystopische Gedanken überwiegen. Das geht nicht nur mir so. Trotzdem lassen wir uns nicht hängen, machen weiter und behalten die Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Positiveren wendet. Ich möchte mich nicht geschlagen geben.
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