Queere Geflüchtete in Berlin: Ganz bei sich
Omar ist 2015 aus Syrien geflohen. Heute lebt er in Berlin offen queer. Die Geschichte einer Selbstfindung.
I ch winke, als Omar den Park betritt. Omar hat recht gehabt, ich erkenne ihn:sie sofort. An den leuchtenden Farben, die er:sie trägt. An der Baggy Jeans, die kurz über den Knöcheln endet. Und den roten Socken, die wirklich auffällig sind. Doch weil ich aufgehört habe, mich über Kleidung zu wundern, die sowohl Frauen also auch Männer tragen können, überrascht mich dieses Outfit nicht wirklich. Dafür aber die ungeheure Energie, die Omar ausstrahlt. Und auch der Kajal um seine:ihre Augen ist mir neu.
„In meinen ersten Wochen in Berlin war dieses Viertel die Hölle für mich“, sagt Omar. Wir spazieren Seite an Seite durch die Straßen von Berlin-Neukölln. „Ich war erschöpft und kraftlos, und meine Schwäche haben manche als Einladung verstanden.“
Omar hätte genauso gut in ein anderes Viertel ziehen können, das ihm:ihr als queere Person vielleicht mehr Sicherheit gegeben hätte. Aber er:sie wollte sich seinen Wurzeln stellen, und hier in Berlin-Neukölln fühlt Omar sich in die engen Gassen seiner Kindheit zurückversetzt. Doch zugleich ist er:sie nicht zu übersehen, sein:ihr Aussehen provoziert manche Männer, insbesondere Syrer. Vermutlich meinen sie, das gemeinsame Vaterland gebe ihnen das Recht, über ihn:sie zu bestimmen.
„Doch seit ich meine Stärke wiedergefunden habe, gehen sie mir aus dem Weg“, sagt Omar. Seine:ihre Größe und die breiten Schultern tragen wahrscheinlich auch dazu bei. Trotzdem möchte Omar keinen richtigen Namen nicht nennen. Er:sie will nicht erkannt werden, um der eigenen Familie die Schande zu ersparen.
Omar und ich, wir haben uns im Exil kennengelernt. Wir stellten fest, dass wir aus der gleichen Stadt in Syrien kommen. Doch obwohl unsere ehemaligen Wohnviertel nur eine halbe Stunde Fahrt auseinander liegen, scheinen unsere „Herkunftsgeschichten“ zwei völlig verschiedenen Welten zu entstammen. Ich, die syrische Journalistin, und Omar, der:die queere Fotograf:in, der:die erst in Deutschland über die eigene sexuelle Identität bestimmen konnte. Der Weg dorthin war für Omar mehr als ein Coming-out, es war ein gewaltsamer Befreiungsschlag, aus dem am Ende etwas Neues entstand.
Dabei stehen Omars Erlebnisse stellvertretend für all jene, die nicht nur Krieg und politische Verfolgung erlebt haben, sondern auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur LGBTQI*-Community diskriminiert worden sind – und ihr Heimatland verlassen haben. Aber was bedeutet es für einen queeren Menschen, wenn er:sie sich von den Werten und Normen des jeweiligen Geburtsorts abwendet und in die vermeintlich liberale Welt einer europäischen Metropole eintaucht? Was verliert und was gewinnt ein queerer Mensch dabei?
Während der Kindheit und Jugend in Syrien hat Omar keine Vorstellung vom Konzept Gender, ihm:ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass es neben „männlich“ und „weiblich“ noch mehr Geschlechter gibt. Er:sie geht nicht davon aus, eine Genderidentität oder sexuelle Orientierung zu haben, die in eine besondere Kategorie fällt. Aber er:sie weiß gleichzeitig ganz genau, dass seine:ihre Versuche, den gesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellungen zu genügen, nur schlechtes Theater sind.
„Meine Erleuchtung hatte ich mit Greta“, sagt Omar, als wir nach dem gemeinsamen Spaziergang in seiner: ihrer Küche sitzen. Bis dahin habe er seinen:ihren Penis immer gehasst und sei jedes Mal gestresst gewesen, wenn er:sie mit jemandem ins Bett gehen wollte. „Ich fühlte mich wie ein Versager, bis ich diesen unvergesslichen Sex erlebte – Sex ohne Penetration.“
Das sei auch das erste Mal gewesen, dass Omar sich wie ein Mensch gefühlt habe und nicht wie ein Mann, und Greta sei es ähnlich ergangen, als sie:er merkte, gar keine Frau sein zu müssen. „Wir begannen zu reden und ich erfuhr mehr über das breite Spektrum der Sexualität. Ich lernte zum Beispiel, dass ich demisexuell bin und mein Wunsch nach emotionaler Bindung dem Wunsch nach Sex vorausgeht“, sagt Omar.
Omar lernt in Berlin die queer-feministische Community kennen und findet einen Weg, den Widerspruch zwischen seinem:ihrem Körper, in dem Omar sich gefangen fühlt, und seiner:ihrer Selbstwahrnehmung, die zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit schwankt, zu überwinden. Das Konzept der Nichtbinarität hilft Omar auch besser zu verstehen, zu welchen Menschen er:sie sich hingezogen fühlt: zu jenen, die eine starke feminine Ausstrahlung haben, wie auch immer ihr Körper aussehen mag.
Omars Geschichte beginnt bereits im Jahr 1981, neun Jahre vor seiner:ihrer Geburt, in der syrischen Stadt Homs. Die Mutter hat gerade ihr erstes Kind begraben, es ist noch vor seinem ersten Geburtstag im Schlaf gestorben. Trauer um den kleinen Jungen erfüllt das große Haus, in dem die Eltern von Omar im ersten Stock und die Eltern des Vaters im Erdgeschoss leben. Der Vater hat keine Brüder. Die Verantwortung für das Fortbestehen des Familiennamens lastet deshalb allein auf Omars Schultern. Auch die trauernde Mutter ist auf männlichen Nachwuchs angewiesen, der ihre Töchter beschützen und sich um sie und ihren Mann im Alter kümmern wird.
Ihr zweites Kind ist ein Mädchen und das dritte auch. Erst im Jahr 1990 bekommt sie wieder einen Jungen, endlich. Die Eltern nennen ihn Omar. Sie haben Angst, dass auch dieses Kind im Schlaf sterben könnte, und wechseln sich darum bis zu seinem sechsten Lebensjahr ab, nachts neben ihm zu wachen.
Das Leben in Homs ist damals im Großen und Ganzen ruhig, hier gibt es keinen Raum für große Fragen. In den engen Stadtvierteln, in denen jeder jeden kennt, sind die Straßen sicher, aber Privatsphäre gibt es kaum. Die Lebenswege gleichen sich. In diesem von religiöser Strenge geprägten Kontext genießen Männer eine viel höhere Stellung als Frauen, stehen dafür aber ständig unter dem Druck, stereotypen Männlichkeitsvorstellungen zu genügen: Sie müssen ihre Familien ernähren und ihre Frauen beschützen. Sie müssen stets Stärke zeigen, aber vor den noch Stärkeren den Kopf senken. Sie können religiös sein, aber nicht zu religiös, sonst werden sie als Anhänger der als Terrororganisation geltenden Muslimbruderschaft verdächtigt.
Als Kind ist Omar gutaussehend. Und auch friedlich, was ihn:sie zu einem leichten Ziel für Hänseleien und Mobbing macht, obwohl Omar darauf achtet, nicht aufzufallen. Omar fürchtet sich vor den aufgeblasenen Jungen an der Ecke und bemitleidet die eigenen Eltern, die daran zerbrechen, dass ihr lange erwartetes Kind nicht zu dem Mann heranwächst, den sie sich gewünscht haben.
„Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich versuchte, mich in ein Mädchen zu verwandeln. Da war ich etwa 10 Jahre alt“, sagt Omar. „Ich betrachtete meinen Körper im Spiegel. Dann nahm ich meinen Penis, zog ihn nach hinten und klemmte ihn zwischen meinen Oberschenkeln ein. Plötzlich sah es so aus, als hätte ich eine Vulva.“
Immer wenn Omar allein zu Hause war, habe er:sie die Kleider der Schwester angezogen. Dann habe sich alles in ihm:ihr entspannt.
Nichts, aber auch wirklich gar nichts habe sich richtig angefühlt während der Jugend. Das war ein Aufwachsen in einer Atmosphäre, die gleichzeitig von Liebe, Ignoranz und Angst geprägt war, erzählt Omar.
Rückblickend könne er:sie von sich selbst sagen, dass es nicht zu seinem:ihrem Charakter gepasst habe, sich selbst zu verleugnen. „Auch wenn mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich mich zum Beispiel nicht der Revolution angeschlossen hätte, wenn ich nicht nach Deutschland gekommen wäre, wenn ich die Welt nicht mit den Augen der Menschen, die hier in mein Leben traten, zu sehen gelernt hätte, wenn all das nicht passiert wäre, dann wäre ich auf einem anderen Wege zu dem Punkt gelangt, an dem ich jetzt stehe.“
Der entschiedene Ton in Omars Stimme kommt daher, dass er:sie schon viel erlebt hat: Krieg, IS-Terror und die ständige Drohung von Verhaftung und Folter durch das syrische Regime. Dann der Weg ins Exil, die Herausforderungen, ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Heute gehe er:sie an keinen Ort und zu keiner Veranstaltung, die nicht queerfreundlich ist, sagt Omar.
Dass die Zeit nichts heilt, beweist der Kajal, der jetzt unter Omars Augen verläuft. Während wir an seinem:ihrem Tisch sitzen, erinnert Omar sich an abschätzige Gespräche zwischen Klassenkameraden, anzügliche Witze und Pornovideos. Die meisten Jungen wetteiferten mit ihren Geschichten über eingebildete oder reale sexuelle Erfahrungen, während andere, darunter auch Omar, versuchten, die Selbstbefriedigung aus ihrem Leben zu verbannen. Denn Selbstbefriedigung gilt für viele Muslime als Sünde.
Das einzige Gespräch über Sex, das Omar in dieser Zeit mit einem Erwachsenen führt, ist mit dem Großvater, der ihm:ihr eine gewaltige Standpauke hält, nachdem er herausbekommen hat, dass Omar sich selbst befriedigt. „Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir vor Scham und Schuldgefühlen“, sagt Omar. Ihm:ihr seien damals die Tränen in die Augen gestiegen, was den Großvater nur noch wütender gemacht habe, denn Männer weinen nicht. „Ich war 13, und er hat mich behandelt, als wäre ich ein Verbrecher.“
Um Omar während unseres Gesprächs zu trösten, biete ich ihm:ihr von den Süßigkeiten an, die ich in einem syrischen Geschäft auf der Sonnenallee gekauft habe. „Schmeckt himmlisch“, sagt Omar, kaum dass er:sie den ersten Bissen genommen hat. Dann bereitet Omar arabischen Kaffee zu, während ich auf dem Balkon eine Zigarette rauche. Unten laufen junge Leute vorbei, Grasgeruch weht zu mir hoch.
Mir gefällt das helle Studio, in dem Omar wohnt: ein Schlafsofa, das so wirkt, als sei es schon seit Jahrzehnten in Benutzung, ein kleiner Tisch zum Arbeiten, bunte Vorhänge und ein großer, offener Kleiderschrank, den er:sie selbst gebaut hat.
Mit 13 habe er:sie angefangen, in den Sommerferien in einer Schreinerei zu arbeiten, sagt Omar, als ich zurück in die Küche komme und ihn:sie auf den schönen Schrank anspreche. „Das habe ich zwei Sommer lang durchgehalten, auch um den anderen Jungen in der Nachbarschaft zu beweisen, dass ich viel aushalten kann“, erzählt Omar, während ein Lächeln über sein Gesicht läuft.
Aber es dauert nicht lange, da erlischt es schon wieder: „In meiner Jugend gab es eine Phase, da habe ich meine männlichen Privilegien ausgenutzt, um meine zwei Schwestern zu unterdrücken.“ Dieses Verhalten bereue Omar mittlerweile zutiefst und habe sich bei den Schwestern dafür entschuldigt.
Als in Syrien im März 2011 die Revolution ausbricht, packt Omar die Euphorie: Nun wird die erträumte Veränderung endlich Wirklichkeit, denkt er:sie damals. Nur wenige Monate hält es ihn:sie noch in Damaskus, wo er:sie im dritten Jahr Ökonomie studiert. Dann kehrt Omar der Universität und den Freunden, die lieber weiterleben wollen wie bisher, den Rücken und begibt sich zurück in seine:ihre Geburtsstadt Homs, um sich den Demonstrationen anzuschließen.
Omar ist fest davon überzeugt, dass der Sinn seines:ihres Lebens in dieser Revolution besteht. Dass Omar in ihr sterben könnte, ist ihm:ihr damals egal.
„Ich ließ mich von den anderen mitreißen und vergaß mich selbst“, sagt Omar. Selbst so intensive Erinnerungen wie die an ein sexuelles Erlebnis mit einem Jugendfreund seien damals aus seinem:ihrem Gedächtnis verschwunden. Einzig die zarten Anfänge einer romantischen Beziehung zu einer Kommilitonin sind in dieser Zeit ein Gegengewicht zum omnipräsenten Tod, auch wenn es die Beziehung nie vom Internet in die Realität schafft.
Omar entscheidet sich, die Stimmen der syrischen Bevölkerung in die Welt zu tragen, für Omar ist dies seine:ihre Aufgabe in der Revolution. Eine Demonstration mit dem Handy zu filmen gilt dem Assad-Regime damals als Kapitalverbrechen, das mit dem Tode bestraft werden muss. Omars Aufnahmen werden über ein Netzwerk von Aktivisten an die Fernsehsender, die über die Revolution berichten, weitergegeben.
Nach einiger Zeit kann Omar dank der Vermittlung eines befreundeten Journalisten an einem Onlineworkshop für Reporter teilnehmen. Wie man Fotos und Videos professionell aufnimmt, wie Liveberichterstattung funktioniert und wie man die Anzahl der Getöteten und Verhafteten dokumentiert – das alles lernt Omar dort.
„Mein erstes traumatisches Erlebnis hatte ich mit 11“, sagt Omar. „Damals verschwand meine erste große Liebe Haifa aus meinem Leben. Ich traf Haifa nicht mehr auf dem Weg zur Schule und ich konnte nicht mehr mit ihr spielen.“
Im syrischen Bildungssystem werden Mädchen und Jungen meist ab der fünften Klasse getrennt – allerdings macht sich damals niemand die Mühe, es Omar zu erklären. Zwei Jahre später vollzieht sich die Trennung der Geschlechter auch im Haus der Familie. Omars Großvater, der als Patriarch über die Einhaltung der Gebote und Verbote wacht und dessen Wort Gesetz ist, will es so. Also verschwinden die Frauen und Mädchen, mit denen Omar aufgewachsen ist, nach und nach aus seinem:ihrem Leben.
„Meine Cousine Waad war nicht länger ein bunter Schmetterling, sondern ein von einem schwarzen Himar bedeckter Kopf“, erinnert Omar sich. Sie ist nur wenige Jahre älter als Omar und wird später gegen ihren Willen mit einem Mann verheiratet, der sie regelmäßig schlägt. „Ihr Gesicht verschwand auf Nimmerwiedersehen. Weil ihr eine Schande anhaftete, von der sich die Familie befreien wollte.“
Die Schande bestand darin, dass sie einmal einen jungen Mann auf der Straße angelächelt hatte. Daraufhin habe sie ihr Vater verprügelt und zu Hause eingesperrt, woraufhin sie ihre Lebenslust verloren habe, sagt Omar. „Als ich mich später traute, zu lieben, wusste ich, was Lieben bedeutet: das Geheimnis bewahren und niemals lächeln.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Omar verbringt die Kindheit in einem Haus, das nie wirklich aufhört, um den früh verstorbenen Bruder zu trauern. Dies ändert sich erst, als eine neue Person zu der Familie stößt: Abdallah, der Mann der großen Schwester Aliaa, der für Omar zu einem Ersatzbruder wird. Das Regime nimmt Abdallah im März 2012 fest, nachdem er sich an Demonstrationen gegen Assad beteiligt hat.
Von einem Mithäftling erfährt die Familie, dass Abdallah zu Tode gefoltert worden sei. „Aliaa bekam ein Dokument ausgehändigt, das besagt, ihr Ehemann sei an einem Herzinfarkt gestorben“, erinnert sich Omar. Dieses Dokument ist alles, was ihr von ihrem Ehemann geblieben ist, seinen Körper bekommt sie nie zu Gesicht.
Für Omars Eltern ist die Todesnachricht eine Katastrophe. „Meine Mutter kniete vor mir, hielt meine Knie fest und flehte mich an, das Land zu verlassen“, sagt Omar. Seine:ihre Hände umklammern fest die Knie. „Mein Vater las im Koran und schluchzte, meine Schwester murmelte: ‚Mein Mann ist tot, mein Schatz ist tot‘.“ Aber Omar ist nicht bereit, die Revolution aufzugeben. Noch nicht.
Mitte 2012 reist Omar in den Norden Syriens, wo er:sie von einer internationalen Presseagentur als Kriegsfotograf ausgebildet wird und dann für diese Agentur arbeitet. „Ich war überall unterwegs, habe an der Front und in den bombardierten Gebieten fotografiert“, erzählt Omar. „Durch die Linse der Kamera sah ich verbrannte Leichen und die entstellten Körper von Menschen, die das Regime oder oppositionelle Milizen zu Tode gefoltert hatten.“
Später kann Omar dann in der Türkei beobachten, wie dort die syrische Politik bestimmt wird, wie ausländische Staaten mit ihnen genehmen Gruppierungen die Bedingungen ihrer Unterstützung aushandeln. Er:sie wird Zeuge, wie der „Islamische Staat“ entsteht und die Welt dabei zuschaut.
Omar habe zu dieser Zeit mit eigenen Augen gesehen, wie Islamisten aus ganz Europa mit ihren Familien über die Türkei in das vom IS kontrollierte Territorium einreisen. „Da habe ich verstanden, dass diese Weltordnung nur einen Gott kennt“, sagt Omar. „Das absolute Böse.“
Die Neuordnung der Welt
Anfang 2015 trifft Omar die schwierigste Entscheidung seines:ihres Lebens: Er:sie reist aus Syrien zuerst in die Türkei und dann weiter nach Deutschland, wo er:sie sofort beginnt, Journalismus zu studieren. Alles, was er:sie in den ersten Wochen in Deutschland erlebt, habe den Beigeschmack von Flucht und Niederlage gehabt, sagt Omar.
Die Gesichter der Familie, von denen er:sie nicht weiß, ob er:sie sie jemals wiedersehen wird, lasten schwer auf seiner:ihrer Seele. Diese Last wird ein wenig leichter zu tragen, als er:sie erfährt, dass die Familie es in ein Dorf in der Küstenregion geschafft hat. Das Dorf ist nicht umkämpft, sterben würden sie dort also nicht. Wirklich gut leben allerdings auch nicht.
„In dieser Zeit war ich noch ein gläubiger Muslim“, sagt Omar. „Aber die Revolution war für mich ein Kampf für die Freiheit und nicht für den Islam.“ Dennoch gehört es damals zu Omars Demokratieverständnis, dass auch die Islamisten das Recht haben, ein aktiver Teil der Revolution zu sein. Doch die Gräueltaten, die immer wieder im Namen des Islam in den von ihnen kontrollierten Gebieten begangen werden, untergraben das ideologische Fundament von Omars Welt.
Der Tod fährt in Syrien reiche Ernte ein, und alle bewaffneten Fraktionen tragen ihren Teil dazu bei. Omar sucht Distanz zu den Mördern und ihren Anführern und beginnt, alles in Frage zu stellen. „Ich habe alles, was ich je gelebt und geglaubt habe, auf den Prüfstand stellen und neu beurteilen müssen“, sagt er:sie. „Gott aus meinem Kopf zu bekommen war schmerzhafter als eine Geburt.“
Ich weiß, dass es für jemanden wie Omar, der:die aus einem konservativen Milieu stammt, viel Mut erfordert, in religiösen Belangen eine abweichende Haltung einzunehmen. Dies gilt umso mehr für den Umgang mit Homosexualität und Queerness, da beides im Nahen Osten immer noch stark geächtet und verfolgt wird. Als Omar beschließt, zu sich und seinen:ihren neuen Überzeugungen zu stehen, reagiert das Umfeld mit großer Fassungslosigkeit und Ablehnung. Omar verliert viele Freunde, ein Teil der Familie bricht den Kontakt zu ihm:ihr ab. Es dauert, bis es Omar gelingt, ein neues soziales Netz aufzubauen.
Omar erzählt mir, dass ihn:sie in dieser Zeit Einsamkeit und Selbstmordgedanken gequält haben. Dies habe sich zwar gebessert, doch es gebe auch heute noch Momente, in denen er:sie keine Energie habe oder in düstere Gedanken verfalle, die mit seiner:ihrer Erziehung, dem Krieg und der Selbstfindung in Deutschland zu tun haben. Schließlich gehen traumatische Erinnerungen nicht einfach so weg, und dann ist da auch noch der Alltagsrassismus, der für Omar das Leben hierzulande manchmal zur Belastung macht.
„In meiner dunkelsten Stunde suchte ich nach einem Grund zu leben“, sagt Omar. Lange habe er:sie geglaubt, dieser Grund ließe sich doch in der Liebe finden – doch dann habe Omar einsehen müssen, dass jede Person irgendwann wieder aus seinem:ihrem Leben verschwinden könne.
„Eine Liebesbeziehung ging in die Brüche, dann noch eine, und dann noch eine. Beinahe wäre ich in Depressionen versunken“, sagt Omar.
„Aber nach zwei Jahren, die ich mit Greta zusammen war, als ich nicht mehr den Anspruch hatte, ein Mann zu sein, und als auch sie diesen Anspruch nicht mehr an mich hatte, da konnte ich der Mensch sein, der ich sein will.“
Dass er:sie hierzulande offen non-binär leben kann, empfindet Omar als großes Glück. In Syrien ist es nach wie vor nahezu undenkbar, sich im Familien- und Freundeskreis zu outen und danach akzeptiert zu werden.
Dennoch gibt es auch in Syrien kleine Fortschritte, was die Sichtbarkeit von queeren Menschen betrifft. So hat die Revolution von 2011 dazu geführt, dass sie sich vermehrt über die sozialen Netzwerke zu erkennen geben.
In meinen Gesprächen mit Geflüchteten fällt mir auf, dass diejenigen, die queer sind, oft besonders politisch sind. Eine Frau aus Berlin namens Yara Saifan bestätigt das: „Bei uns ist sogar die Liebe politisch, solange es Autoritäten gibt, die uns unseren Körper und unsere Sexualität absprechen.“
Deshalb ist es für Yara Saifan auch so wichtig, dass man sich in der internationalen LGBTQI*-Community gegenseitig unterstützt. „Nur so schaffen wir es, der Opferrolle zu entkommen und unser eigenes Narrativ zu entwickeln.“
Für Omar gibt es keine Stadt, die mehr für Veränderung bereit ist als das bunte, freie Berlin. Aber er fühlt sich nicht nur mit diesem Ort verbunden, sondern auch mit der queerfeministischen Community, die weder Grenzen noch Nationalitäten kennt und alle Kategorien überwinden will, die das Menschsein einschränken.
Ich sehe in Omar einen politisierten Menschen, einen Träumer, der seine Utopie leben will. Er:sie umgibt sich mit queeren Freund*innen aus Syrien, aus Deutschland und anderen Ländern, und lernt, sich von Menschen fernzuhalten, die sie:ihn nicht akzeptieren.
Omar fühlt sich der QTBIPOC-Community zugehörig, weil diese den Menschen an sich repräsentiert, ohne andere Eigenschaften zum Maßstab zu erheben. So bietet sie den marginalisiertesten Gruppen Raum, die in der Gesellschaft unter Mehrfachdiskriminierung zu leiden haben – aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Genderidentität und ihrer Nationalität.
Für Omar ist das Leben eine Suche nach sich selbst, und er:sie möchte es seiner Community widmen – seine Wahlfamilie. Jeden Tag lernt Omar von ihr und mit ihr. Omar hat keine Kraft mehr, sich mit den Vorwürfen von Menschen aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er:sie möchte den Eltern keinen Kummer bereiten und bleibt darum auch weiterhin mit ihnen in Kontakt, auch wenn es noch nicht möglich ist, mit ihnen über seine:ihre Queerness zu sprechen. In diesem Kampf will Omar sich nicht aufreiben. Für den Moment genügt Omar die Liebe seiner Eltern, und die will er:sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen.
„Ich bin ein sehr radikales Beispiel“, sagt Omar, aber die Tatsache, dass seine:ihre Familie und deren konservatives Umfeld eine Art des Umgangs gefunden haben, obwohl es Omar an der so hochgeschätzten Männlichkeit mangelt, beweisen, wie sehr auch diese Menschen sich verändert hätten. „Ich bin nur eine:r, mein Fall hat kaum Gewicht“, schließt Omar, „aber es gibt viele, die wie ich sind.“
Die Veröffentlichung dieses Textes wurde unterstützt durch ein Stipendium des NewsSpectrum Fellowship Programm. Zeitgleich erscheint sie auf der Website von Syria Untold in Arabisch und Englisch
Einige Details der Geschichte sowie die Namen der Protagonist:innen wurden geändert, um sie zu schützen.
Übersetzung aus dem Arabischen: Mirko Vogel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!