Puppen mit Totenkleidern als Trauerhilfe: „Eine Erinnerung zum Umarmen“
Das Tostedter Ehepaar Lind näht Puppen aus Kleidungsstücken geliebter Verstorbener. Das kommt überraschend gut an – vor allem bei Erwachsenen
taz: Herr Lind, warum haben Sie und Ihre Frau „Mapapu“ erfunden – „Mama-Papa-Puppen“?
Hendrik Lind: Das hat innerfamiliäre Gründe. Meine Frau und ich haben jeweils ein Kind in die Ehe gebracht. Als dann unser erstes gemeinsames Kind zur Welt kam, war für die anderen Kinder das Seelenchaos komplett: Wo komme ich her, wo gehöre ich hin – wo ist mein Platz? Das sind typische Fragen von Trennungskindern. Sie brauchten ein klares Zeichen. Das haben sie von uns bekommen – mit einem Mapapu.
Inwiefern half das?
Meine Frau hat ein T-Shirt von sich mit einem ihres Ex zum Mapapu vernäht. Dasselbe hat sie für mich und meine Ex gemacht. Diese Mapapus haben wir unseren Kindern gegeben und gesagt: Hier ist etwas, das ist genau wie du. Aus dem Stoff deiner leiblichen Eltern. Wir gehen getrennte Wege, aber in dir sind wir für immer vereint.
43, in Deutschland geboren, lebte bis zum zwölften Lebensjahr in Venezuela und ging nach dem Betriebswirtschaftsstudium in die Erneuerbare-Energien-Branche. Seit 2009 arbeitet er als Geschäftsführer des Klein-Unternehmens Mapapu, das er gemeinsam mit seiner Frau betreibt.
Das klingt wie ein billiger Trost.
Nein, gar nicht billig. Da steckt ganz konkret Geruch von Mama und Papa drin, und die kann das Kind immer bei sich haben. Was außerdem oft vergessen wird: Kinder kommunizieren mit Kuscheltieren, führen Selbstgespräche. Beim Mapapu reden sie auf diese Art mit dem abwesenden Elternteil.
Aber die leiblichen Eltern sind getrennt, das Zusammennähen eine Illusion.
Das Kind besteht genetisch zu 50 Prozent aus Papa und Mama. Der Mapapu symbolisiert diese Tatsache. Wir können Mutter und Vater nicht wieder vereinen, aber wir können Trost geben.
Sie sprachen vom Geruch. Dass die Decke nach ihnen selbst oder nach Frauchen oder Hercchen riechen muss, kennt man sonst eher von Hunden und Katzen …
Es gilt auch für Menschen. Viele Trennungskinder bekommen ein Schlaf-T-Shirt von Mama mit, wenn Papa-Wochenende ist – weil es nach Mama riecht.
Inzwischen fertigen Sie vor allem Trauer-Mapapus. Warum?
Weil Trennungs-Mapapus selten gelingen. Denn dafür muss man die Eltern frisch in der Trennungsphase erreichen, wenn sie noch willens sind, zugunsten der Kindes gut zu kooperieren. Danach kommt der Ego-Trip, und dann geht oft nichts mehr. Aber wie soll man Menschen in dieser Phase abpassen? Schwer bis unmöglich, weshalb Trennungs-Mapapus nicht unser Hauptgeschäftsfeld wurden.
Und wie kamen Sie auf Trauer-Mapapus?
Wir haben beobachtet, wie sehr ein Mapapu aus Lieblingskleidung eines Verstorbenen dem Trauernden hilft. Er macht das unfassbare Thema „Verlust eines geliebten Menschen“ greifbar. Konkreter Auslöser war vor einigen Jahren ein Todesfall an der Schule unserer Kinder. Ein junger Mann starb bei einem Unfall. Seine Eltern baten uns, aus seinem T-Shirt Mapapus für die beiden Geschwister zu nähen. Das waren unsere ersten Mapapus für Trauernde.
Wie schwer war der erste Schnitt ins T-Shirt eines Toten?
Es ist meiner Frau, die die Mapapus näht, sehr schwer gefallen. Aber hinterher hat sie gesagt: Dies war einer der schönsten Momente. Denn beim Tod geht es um Transformation. Und sie hat aus dem alten T-Shirt ja wirklich etwas Neues geschaffen. Genau das für den Trauerprozess so wichtig: die alte Form aufzugeben und zu akzeptieren, dass sie nicht mehr besteht.
Und wonach richtet sich das Äußere des Mapapu? Äußern die Kunden Wünsche?
Die meisten Päckchen kommen ohne spezielle Wünsche hier an. Wenn es welche gibt, können wir sie meist erfüllen. Es gibt eine intensive Kommunikation mit den Kunden, bevor genäht wird.
Treffen Sie die Kunden persönlich?
Nein, das meiste läuft über Telefon und Mail. Aber es gibt auch immer mal wieder persönliche Treffen. Und obwohl es da um schwere Schicksale geht, ist das immer gut und schön.
Ein Beispiel?
Neulich war eine Frau hier, die noch zwei Wochen zu leben hatte und ihrer Tochter und ihrem Lebensgefährten je ein Mapapu schenken wollte. Eine bleibende Erinnerung. Solche Begegnungen sind schwer, aber auch schön, weil sehr intensive Momente entstehen.
Weinen Sie manchmal mit?
Ja. Für mich persönlich sehr schwer war der Absturz der „German Wings“-Maschine im März 2015. Dort kam auch eine Schulklasse ums Leben. Sie stammte von dem Gymnasium, das ich selbst besucht hatte. Mehrere meiner Bekannten haben bei dem Absturz ihr Kind verloren.
Hat Ihre Frau Mapapus für „German Wings“-Opfer gemacht?
Ja. Die T-Shirts wurden an der Fundstelle eingesammelt und den Familien zugeordnet. Aus einigen dieser Kleidungsstücke hat meine Frau Mapapus genäht.
Püppchen mit Kleidern des Toten, die ständig an den Verlust erinnern: Verlängern sie nicht die Trauer?
Die Deutschen haben zwei Weltkriege erlebt – mit so vielen Toten, dass es ein Trauma wurde. Tod gleich Weggucken! Auch heute werden Trauernde gern ausgeblendet. Wenn wir dann selbst in einer Trauersituation sind, verfallen wir in Schockstarre, können nicht mehr woanders hingucken. Und weil diese Schockstarre da ist, wollen die meisten schnell vergessen. Das ist eine ungesunde Trauerkultur.
Inwiefern?
Weil wir darüber vergessen: Warum ist Trauer da? Die Antwort ist simpel: weil Liebe da ist! Durch den Blick auf die Liebe entsteht Dankbarkeit: Danke, dass dieser Mensch in meinem Leben war. Wenn wir so denken, kommen wir zu einer gesunden Trauerverarbeitung.
Sehen Ihre Kunden das genauso?
Wir haben gelegentlich Kunden, deren erster Impuls ist: nein, lieber nicht. Aber hinterher sagen sie, dass es gut ist, diesen Mapapu zu umarmen. Denn auch bei Erwachsenen entsteht über den Mapapu eine Art Kommunikation mit dem Verstorbenen. Das kann man Selbstgespräch nennen; spirituell kann man es noch anders nennen. Jedenfalls hilft es.
Aber hält man den Toten so nicht künstlich lebendig?
Um dieses Missverständnis zu vermeiden, nennen wir das Ganze Mapapu-Geburt. Die bezahlte Rechnung Mapapu-Geburtsgeld. Es gibt eine Geburtsurkunde. Damit machen wir klar: Wir bringen nicht deinen verstorbenen Ehemann zurück ins Leben. Sondern eine greifbare Erinnerung.
Vergleichbar mit einem Erbstück, dem Ring der Oma?
Ja. Nur dass hier Kommunikation entstehen kann. Ein Selbstgespräch. Eine Reflektieren über Probleme, die teils überraschende Antworten bringt.
Sie sagten eben, man könne das Selbstgespräch auch spirituell deuten. Inwiefern?
Das ist ein Thema, bei dem viele die Augen verdrehen. Aber spätestens seit unserer Arbeit mit Mapapus wissen wir: Es geht weiter nach diesem Erdenleben. Und zwar gut.
Woher wissen Sie das?
Wir lassen uns von den Kunden erzählen, worum es bei dem jeweiligen Mapapu geht: von wem und für wen er ist. Meine Frau weiß meist sofort, wie der Mapapu auszusehen hat, wenn sie die T-Shirts sieht. Aber manchmal klappt es nicht, und es gibt keine rationale Erklärung. Und dann kommt von irgendwoher ein Impuls, und dem folgt sie. Dann entstehen Details, die noch kein anderer Mapapu hatte. Darüber bekommen wir dann überraschte Rückmeldungen.
Zum Beispiel?
Einmal hat eine Mutter angerufen und gesagt: Ihr konntet es nicht wissen, aber meine verstorbene Tochter hatte am Frühstückstisch immer einen Turban auf. Das hatte sie uns vorher nicht gesagt – aber das war unser erster Mapapu mit Turban.
Wie kam es?
Meine Frau sagte, irgendwann habe sie wahrgenommen: „Dieser Mapapu soll einen Turban haben, ich weiß auch nicht, warum.“ Und so hat sie es gemacht. Zufall?
Sie liefern auch Mapapus für Demente. Hilft das?
Ja, denn Geruch ist elementar. Es ist das erste, was wir können, wenn wir auf die Welt kommen. Und das Letzte, wenn wir sie verlassen. Und über Geruch erreicht man demenziell Erkrankte. Wenn ich mit Zuhause-Geruch arbeite – dem gewohnten Waschmittel oder dem Geruch von Angehörigen –, erzeugt das wache Momente beim Betroffenen. Es ist wie ein Anker ins alte Leben.
Aber der Geruch verfliegt.
Das macht nichts. Er muss nur da sein, wenn der Mapapu beim Kunden ankommt. Dann entsteht diese Verlinkung. Die bleibt, auch wenn der Geruch nach einiger Zeit weg ist. Die Beziehung ist gesetzt.
Und wie funktionieren Ihre Mapapus für Borderliner?
Borderliner können sich nicht fassen. Sie verletzen sich manchmal extrem, um sich zu fühlen. Wenn ich Lieblingskleidung eines Borderliners bekomme und ihm daraus ein Mapau mache, hat er sich zum ersten Mal im Außen. Er kann sich in den Arm nehmen. Und auch bei ihm entsteht eine Kommunikation mit dem Mapapu, in dem das wohlige Ich steckt. Eine Kommunikation mit dem inneren Ich.
Wie kamen Sie darauf?
Sind wir gar nicht. Eine Borderlinerin hat uns zwei Lieblings-T-Shirts für ein Mapapu gegeben und danach berichtet, das es geklappt hat.
Warum machen Sie eigentlich nur Puppen-Mapapus und keine Hunde, Katzen, Elefanten?
Wir hatten mal über eine Artenvielfalt nachgedacht. Das ist aber schwer, weil sich Kleidung verschieden gut dehnt und sich nicht aus jedem T-Shirt alles machen lässt. Und damit nicht alle plötzlich eine Katze wollen und traurig sind, wenn es nicht geht, sind wir beim Standardmodell geblieben.
Welche Kleidungsstücke eignen sich überhaupt?
Gut dehnbare Stoffe: T-Shirts, Fleecepullover, Sweatshirts, Poloshirts.
Was geben Sie dazu?
Abgesehen von unserem Herzblut: nur Garn und Füllstoff. Wir nähen Augen auf.
Warum keine Nase, keinen tröstlich lächelnden Mund?
Wenn ich einen sehr traurigen Moment habe, bringt es nichts, wenn ich einen Dauergrinser vor mir habe. Übrigens ein Waldorf-Prinzip: Alle Waldorf-Puppen haben nur Augen, damit jedes Gefühl, das im Menschen ist, widergespiegelt werden kann.
Sind Sie und Ihre Frau Anthroposophen?
Halbe. Aber unsere Kinder besuchen eine Waldorf-Schule.
Sind eigentlich die meisten, die Mapapus geschenkt bekommen, Kinder?
Nein. Die mit Abstand meisten sind Erwachsene. Das hat uns auch überrascht.
Sind das trauernde Eltern?
Nicht nur; es gibt auch viele trauernde Ehepartner. Unser älteste Kundin war kurz vor 90 und hatte fast ihr ganzes Leben mit ihrem Mann verbracht. Der Mapapu war dann wie ein Stück von ihm.
Überhaupt erinnern Ihre Mapapus an archaische Fetische. Spielen Sie mit dieser Parallele?
Durchaus. In vielen ursprünglicheren Kulturen enthielten Puppen Haare der Großmutter, der Eltern und Geschwister. Da war dann deren Energie drin. Dieses Einflechten authentischer Bestandteile ist verbreitet – nicht nur im Zusammenhang mit Trauerkultur.
Sie selbst sind in Venezuela aufgewachsen. Trauert man dort entspannter?
Ja. In ganz Lateinamerika gibt es eine fröhlichere Trauerkultur. In Mexiko zum Beispiel wird im November der fröhlich-bunte „Día de los muertos“ gefeiert, der „Tag der Toten“. Da feiert und lebt man die Dankbarkeit, diesen Menschen gekannt zu haben. Die Leute verkleiden sich, tanzen, es gibt Straßenumzüge für die Lebenden und die Toten.
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