Pulitzer-Preisträger Chacon in Hannover: Auch Feuerwaffen können herrlich singen
Im Kunstverein Hannover zeigt der Komponist Raven Chacon, dass wirklich ein Lied in allen Dingen schläft. Und er macht es auch hörbar.

Diese Sound-Performance hätte man gern einmal live erlebt: „Report“ ist das spektakulärste Werk in Raven Chacons erster Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum. Ausgerichtet hat sie der Kunstverein Hannover unter dem Titel „Conductus“. Aber schon allein weil die Waffengesetze in Deutschland nicht so lax sind wie in den USA, kann die Performance darin nur als Videodokumentation gezeigt werden: Die ließ Chacon bei einer Wiederaufführung im Jahr 2015 in einer weiten, nicht benannten Landschaft aufzeichnen.
Die Partitur verfasst hatte der US-amerikanische Komponist und multidisziplinäre Künstler schon 2001. Die Besetzung: acht Personen, ausgestattet mit Handfeuerwaffen diverser Kaliber, darunter sind wohl auch historische Gewehre, Revolver, Pistolen oder Schrotflinten.
Im exakten Duktus eines Konzertes werden von den hoch konzentrierten Akteur:innen die unterschiedlichen Waffen abgefeuert. Ihre jeweils eigenkennigen Schallfarben verdichten sich zu harmonischen, sequenziellen Rhythmen, einem zwischenzeitlichen „Finale Furioso“ und klingen dann doch fast in der Stille aus. Nur noch der Wind bewegt, wie schon zu Beginn, die Notationsblätter der Schütz:innen, die auf konventionellen Notenständern ruhen.
Chacon ist natürlich kein Waffennarr. Aber auch kein Philister, der mit seiner Kunst gegen die aggressiven Auswüchse des Waffenbesitzes in den USA agitieren möchte. In einem Interview aus dem Jahr 2022 benannte er seine Überlegungen zu diesem Stück: „Es war nie ein Kommentar zu Waffen, jedenfalls nicht im Sinne von pro und kontra“, erklärte er dem online-Magazin „New Music USA“.
Metaphern für Urphänomene des Daseins
Stattdessen gehe es darum, „dass man sich fragt: Jagen diese Menschen? Schießen diese Musiker:innen auf ein Tier? Schießen sie, weil jemand ihnen das Land nehmen will?“ Es sind also Urphänomene menschlichen Daseins, für die Chacon diese Klangmetapher erfand.
Die Hannoversche Ausstellung versteht sich als Beitrag zum Ende 2024 ausgerufenen Jubiläumsjahr anlässlich des Unesco-Titels „City of Music“. Der ziert die niedersächsische Landeshauptstadt seit 2014. Aber ist das Musik, was Raven Chacon konzipiert und aufführt?
Zumindest ist klar: Es ist keine Musik im Sinne eines traditionellen, westlich europäischen Verständnisses und seiner Notationsliteratur. Denn Raven Chacon, 1977 in Fort Defiance, Arizona, Navajo Nation, geboren, erhielt zwar zahlreiche Musikpreise, so im Jahr 2022 als erster Native American den Pulitzer Prize of Music für seine Komposition „Voiceless Mass“. Ihn interessieren aber alle Klänge: Stimmen, Schreie, Bewegungen, kurz: Schallemissionen jeglicher Art.
Auditive Phänomene sind für ihn existenzielle Bestandteile eines Lebens als Musik. Davon sind Töne konventioneller Musikinstrumente also nur ein kleiner Teil. Besonders fasziniert Chacon der Wind und seine unzähligen akustischen Facetten. Schon früh fing er deshalb an, diese in seinen „Field Recordings“ aufzuzeichnen, neben weiteren Geräuschen der Natur.
Aber das, was während der ruhigsten Tages- und Nachtzeiten die magische Stille eines landschaftlichen Ortes ausmacht, verstärkt Chacon bis zum ohrenbetäubenden Getöse – so, als wenn man tief in die innerste Geräuschquelle dieser dann gar nicht mehr leisen Stille eindringen könnte. Drei Bespiele aus den Landschaftsweiten New Mexikos lassen sich in Hannover akustisch wie auch als Panoramabild erkunden. Denn auch das gehört zu Chacons Kunst: Immer geht es um die Einheit von Auditivem und Visuellem.
Und das schon seit seiner Ausbildung am legendären California Institute of the Arts, CalArts. Hier studierte er sowohl experimentelle Musik als auch bildende Kunst. Aber seine Arbeiten speisen sich natürlich auch aus ganz anderen Wurzeln und vor allem aus seinem kritischen und forschenden Bewusstsein.
Raven Chacon, „Conductus“, Kunstverein Hannover, bis 10. 8.
Chorperformance mit einer Auswahl von Chören aus Hannover, 2. 8., 19 Uhr
Soloperformance, 7. 8., 19 Uhr
Kuratorische Einführungen am 1.und 5. 8., jeweils 18 Uhr
Als Angehöriger der Nation der Navajo weiß er um die historische Dimension der Vertreibung aus dem eigenen Land, der Vernichtung physischer Existenz, traditioneller Lebensweise und alter Kultur. Eine frei interpretierbare, zwölfteilige Partitur widmete Chacon deshalb ab 2017 der Autorin, Musikerin und Aktivistin Zitkála-Šá, die 1913 die erste indigene Oper Amerikas schuf.
Geschrieben für ein weibliches Ensemble, fungieren nun westliche Noten, tribale geometrische Zeichen und Zahlengrafiken als Porträts zeitgenössischer indigener Künstlerinnen, so Chacon. Er kennt zudem die Vorherrschaft mitunter dubioser eurozentristisch weißer Forschung, so des französisch-amerikanischen Ornithologen, Vogeljägers und Malers John James Audubon.
Dieser hatte im frühen 19. Jahrhundert Vogelarten porträtiert, die einst im Osten Nordamerikas heimisch waren. Aber wohl so manche waren eher fiktiver Natur. Chacon erfand nun Musikinstrumente aus Rohrstücken, Tonpfeifen oder einem Blasebalg, die das Gezwitscher all dieser Vögel simulieren – und versetzt mit seiner 40-minütigen Sound-Installation einen großen, leeren Ausstellungssaal des Kunstvereins in einen ganz friedlichen und exotischen Vogelpark.
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