Publizist Ramadan: „Islam und Rechtsstaat sind vereinbar“
Ein deutscher Muslim, der die Verfassung nicht kennt und als seine begreift, wird seiner Pflicht als Muslim nicht gerecht, so der Islamgelehrte Tariq Ramadan.
taz: Herr Ramadan, für die einen sind Sie ein islamischer Reformer, andere halten Sie für einen Fundamentalisten im Schafspelz. Wie sehen Sie sich selbst?
Tariq Ramadan: Ich komme aus der reformerischen Tradition. Aber für manche ist jeder praktizierende Muslim bereits ein Fundamentalist.
45, ist Schweizer Islamwissenschaftler und Publizist ägyptischer Herkunft. Ramadan ist derzeit als Forschungsstipendiat in Oxford tätig und diente Tony Blair als Berater in Islam-Fragen. Im Jahr 2004 hätte er in den Vereinigten Staaten eine Professur antreten sollen, doch das US-Heimatschutzministerium verweigerte ihm die Einreise, weil er palästinensischen Hilfsorganisationen Geld gespendet hatte.
Was wollen Sie am Islam denn reformieren?
Es gibt religiöse Prinzipien, die zeitlos gültig sind: etwa die Art, wie wir beten, oder dass wir den Fastenmonat Ramadan begehen. Aber bei Fragen der sozialen Organisation oder des Umgangs mit Andersgläubigen kann man die Lage im Medina des 7. Jahrhunderts nicht einfach als Modell auf das 21. Jahrhundert übertragen. Das ist ein Traum, der sich in einen Albtraum verwandeln kann, wenn man die Komplexität der heutigen Welt ignoriert.
Ist es das, was in Ländern wie Saudi-Arabien oder dem Iran passiert?
Ich bin beiden Ländern gegenüber sehr kritisch eingestellt, aber man muss die Unterschiede sehen. Die Saudis haben meiner Meinung nach ein sehr oberflächliches Verständnis der islamischen Gesetze und ihrer Umsetzung. In Wirklichkeit geht es darum, die wirtschaftlichen Interessen der Herrscherfamilie zu schützen. Die Opfer dieses Systems sind dabei die Armen, die Gastarbeiter aus Pakistan. Im Iran hingegen gab es die Revolution. Dort ringen seit 20 Jahren konservative und reformerische Kräfte.
In beiden Ländern bildet die Scharia die Grundlage aller Gesetze. Was halten Sie davon?
Ich glaube, dass es möglich ist, sich auf den Islam zu beziehen und zugleich zu universalistischen Prinzipien wie Rechtsstaat, den Menschenrechten oder der Gewaltenteilung zu bekennen. Man muss sich nur fragen wie. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Erdogan in der Türkei und der iranischen Republik, auch wenn beide aus einer islamischen Tradition kommen.
In der Türkei spielt die Scharia keine Rolle, in Ländern wie Ägypten oder Marokko prägt sie zumindest Teile des Familienrechts. Finden Sie das gut?
In den meisten islamischen Ländern finden wir eine sehr enge Auslegung des islamischen Rechts. Deswegen stand ich in Marokko auf der Seite jener, die sich nach intensiven Debatten auf eine Reform des Familiengesetzes geeinigt haben. Es gab da eine Kommission, in der Rechtsgelehrte, Frauenrechtlerinnen und andere Vertreter der Zivilgesellschaft zusammensaßen. Aber man kann einem islamischen Land nicht einfach vom Westen aus ein neues System überstülpen nach dem Motto: Wir besitzen die Aufklärung, und ihr seid rückschrittlich. Das funktioniert nicht.
Atatürk hat das in der Türkei getan.
Ja, aber die Veränderung muss von innen kommen. Es geht darum, durch die Lektüre des Korans zu zeigen, dass häusliche Gewalt nicht islamisch ist. Dass weibliche Beschneidung nicht islamisch ist oder Scheidung ein Recht, das Frauen gleichermaßen zusteht. All diese Rechte lassen sich aus dem Koran ableiten. Deswegen habe ich mich in meinem letzten Buch auf das Leben des Propheten bezogen und gesagt: Lasst uns sehen, was er getan hat. Das kann uns helfen, einen besseren Umgang mit heutigen Fragen zu finden.
Was verstehen Sie unter der Scharia? Ist sie eine moralische Richtschnur oder Grundlage für weltliche Gesetze?
Die Scharia ist für mich ein zentraler Begriff. Scharia bedeutet, wörtlich übersetzt, der Weg zur Quelle. Es ist angewandte Ethik.
Sollte sie eine private oder eine öffentliche Rolle spielen?
Für mich ist jede Art von Recht, das Werte wie Gerechtigkeit oder Gleichheit fördert, ein Teil meiner Scharia. In der deutschen Verfassung wird vor dem Gesetz nicht zwischen Männern und Frauen oder Christen und Muslimen unterschieden. Es geht nicht um die Frage, von wem die Gesetze stammen. Wenn ein Gesetz der Gerechtigkeit dient, dann ist es meins. Ein deutscher Muslim, der die deutsche Verfassung nicht kennt, wird deshalb seiner Pflicht als Muslim nicht gerecht.
Predigen Sie einen „Euro-Islam“?
Der Begriff ist eine Erfindung von Bassam Tibi. Ich rede lieber von europäischen Muslimen, wie ich einer bin. Wenn Bassam Tibi vom „Euro-Islam“ spricht, dann klingt das so, als müsste man dafür Abstriche an der Geltung des Korans machen. Aus diesem Grund können ihm die meisten Muslime nicht folgen.
Sehen Sie denn keine Konflikte zwischen islamischen und europäischen Werten?
Wenn ich mir die deutsche Verfassung anschaue, dann sehe ich darin keinen Widerspruch zu meinen Überzeugungen. Aber manche Europäer sind dabei, ihre Gesetze neu zu interpretieren, weil sie die neue Sichtbarkeit der Muslime stört. Ich komme gerade aus der Schweiz, wo eine der größten Parteien, die UDC, sich mit der Forderung nach einem Minarettverbot hervortut. Sie kennen ja die Kopftuchdebatte in Frankreich. Das ist eine neue Lesart des europäischen Erbes, die andere ausschließen möchte. Ich kann die Ängste verstehen. Aber ich kann Diskriminierungen nicht gutheißen.
Auch in einem muslimischen Land wie der Türkei gibt es Streit um das Kopftuch.
Für mich ist es unvereinbar mit dem Islam, eine Frau zu irgendetwas zu zwingen. Das ist meine Haltung zum Kopftuchzwang in Saudi-Arabien und im Iran. Aber es widerspricht auch den Menschenrechten, Frauen dazu zu zwingen, es abzunehmen. Alle Welt wundert sich doch, was gerade an der Spitze des türkischen Staates passiert: Es ist doch lächerlich, dass ein Präsident nicht mit seiner Ehefrau zu einem Empfang gehen kann, weil diese ein Kopftuch trägt.
Was unterscheidet Sie von einem Gelehrten wie Nasr Hamid Abu Zaid, der für eine hermeneutische Interpretation des Korans eintritt?
Er meint, man solle den Koran lesen wie jeden anderen Text, und legt nicht so viel Nachdruck auf die ethische und spirituelle Rolle der Religion. Im Grunde rührt er damit an einem Pfeiler unserer Religion. Ich denke, dass wir uns nicht nur an die Welt anpassen, sondern diese auch verändern müssen. Als jemand, der eine bestimmte Überzeugung und Ethik vertritt, möchte ich, dass diese Welt ein besserer Ort wird. Deshalb fühle ich mich Hans Küngs Idee einer globalen Ethik näher.
Wie begegnen Sie als Gläubiger den Zumutungen einer liberalen Gesellschaft wie Pornografie oder Blasphemie?
Das ist der Preis der Freiheit. Jeder Versuch, so etwas zu bekämpfen, würde als Zensur aufgefasst werden. Der einzige Weg zu persönlicher Freiheit ist Bildung und Wissen. Das ist eine geistig-spirituelle Herausforderung.
Verstehen Sie, warum sich junge Deutsche einer Terrorzelle anschließen, um im Namen des Islams zu töten?
Ihr Verständnis des Islams baut darauf auf, Nichtmuslime zu bekämpfen und vermeintliche Unterdrücker zu töten. Man muss diese Ideologien bekämpfen. Wir tun dies, indem wir sagen: Diese Überzeugungen und diese Taten sind nicht islamisch. Natürlich gibt es Ungerechtigkeiten: Der Krieg im Irak war illegal, die Rechte der Palästinenser werden nicht respektiert. Widerstand dagegen ist legitim. Aber Widerstand heiligt nicht alle Mittel. Sie müssen ethisch vertretbar sein.
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