piwik no script img

Psychologische Hilfe in BelarusDie innere Balance wiederfinden

Viele Belarussen verzweifeln an der Situation. Aktivisten bieten Hilfe an. Olga Deksnis erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 99.

Baum zum Kraftschöpfen Foto: Christophe Papke/imago

K ürzlich war ich zu einer journalistischen Weiterbildung im ukrainischen Lemberg. Dort fragte mich eine Kollegin: „Hast Du das Gefühl, dass Du hier außerhalb von Belarus in Sicherheit bist?“ Leider ja.

Für die Fortbildung sollte ich ein Interview mit einem Mann aus einem Ökodorf veröffentlichen, aber er sagte unser Treffen ab. Er wolle keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das ist übrigens nicht der erste Vorfall dieser Art.

Записки из Беларуси

Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.

Meine Ökologiegeschichte sollte ich auf dem Nachrichtenportal tut.by veröffentlichen, aber das wurde abgeschaltet. Zum zweiten Teil des Workshops in der Ukraine konnte ich nicht fliegen. Der Flugverkehr wurde eingestellt, nachdem der Ryan-Air-Flug Athen-Vilnius mit Roman Protassewitsch an Bord mit Gewalt nach Minsk umgeleitet worden war. Ich hatte das Gefühl, als bewegte ich mich auf dünnem Eis, das bei jedem Schritt unter meinen Füßen knackte.

Von Kollegen habe ich erfahren, dass in Minsk Aktivisten kostenlose Programme organisieren. Sie sollen Belarussen dabei helfen, ihr seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen, das ihnen seit den Wahlen vom August 2020 abhanden gekommen ist. Seitdem haben schon etwa 600 Menschen daran teilgenommen. Mir ist es gelungen, dort einen Platz zu bekommen.

„Das ist Olga, sie ist Journalistin für soziale Fragen. Sie hat eine Tochter im Teenageralter und ist vor kurzem aus der Provinz in die Hauptstadt gezogen. Um zu überleben, übt sie jetzt eine ihrem bisherigen Beruf verwandte Tätigkeit aus.“ So hat mich ein Fotograf den Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen von „Lesa“ (Name der Initiative geändert) empfohlen.

privat
Olga Deksnis

35 Jahre alt, lebt in Minsk und arbeitet bei dem Portal AgroTimes.by. Sie schreibt über besonders verwundbare Gruppen in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung, LGBT, Geflüchtete etc.

Mit einem Kleinbus fahren wir aus der Stadt hinaus in ein Hotel an einem Stausee. Wir sind dort etwa 20 Menschen. Bei der Anmeldung müssen wir keine Pässe abgeben, wir sind hier alle inkognito. Wir richten uns in den Zimmern ein und um drei Uhr nachmittags treffen wir uns mit der ganzen Mannschaft in einem großen Zelt.

„Ich heiße Sascha“, sagt ein Mädchen. Mehr schafft sie nicht, dann bricht sie in Tränen aus. (Erst später beim Essen erzählt sie, dass sie gerade eine Haftstrafe hinter sich hat.)

„Ich heiße Antonina Ivanovna“, stellt sich die blonde Frau im Rentenalter vor. „Ich möchte diese Tage mit meiner Tochter und meiner Enkelin verbringen.“ (Später erfahren wir, dass sie für ihre Beteiligung an Protestaktionen umgerechnet 400 Euro Strafe zahlen muss. Sie zahlt das in Raten von ihrer Rente zurück. Die beträgt umgerechnet etwa 100 Euro monatlich).

„Wir sind hierher gekommen, um eine für uns wichtige Entscheidung zu treffen“. In den Augen des Familienvaters, der seinen dreijährigen Sohn auf dem Schoß hat und seine Frau an der Hand hält, schimmern Tränen. (Später werden wir wissen, dass die Familie plant, das Land zu verlassen, was für sie schwierig ist. Erst vor kurzem haben sie eine Wohnung gekauft, sie möchten ihre Eltern nicht gern allein zurück lassen, aber das Gefühl von Angst vor Verfolgung lässt nicht nach).

„Mein Name ist Tatjana“, sagt eine Journalistin. „Ich fühle mich schuldig, dass ich nicht länger Geschichten über repressierte Menschen schreiben kann, weil ich es nicht mehr ertrage, diese Leiden anzuhören. Alkohol hilft nicht weiter. Antidepressiva auch nicht. Ich spüre eine innere Wut.“

Drei Tage machten wir an diesem geheimen Ort Yoga, gingen mit geschlossenen Augen durch den Wald, hielten unbekannte Menschen an den Händen (um wieder Vertrauen zu lernen), standen auf Nägeln, schrien so laut wir konnten, malten unsere Befindlichkeiten und sprachen mit Psychologen. Oder saßen einfach am Wasser und dachten über das Leben nach. Wir alle sammelten wieder ein wenig Kraft, um unser gewöhnliches belarussisches Leben nach den Präsidentschaftswahlen weiter zu leben.

Die Menschen zahlen Strafen dafür, dass sie mit der illegitimen Wahl nicht einverstanden sind, sie sitzen dafür im Gefängnis, aber die Traumata, die sie durch diese Ungerechtigkeiten zurückbehalten, verschwinden nicht. Wir müssen uns noch lange mit ihnen arrangieren.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Die innere Balance zu bewahren ist in den aktuellen Zeiten für alle Menschen hilfreich, nicht nur in Belarus, dennoch ein guter Artikel.