Psychologin über Gleichberechtigung: „Neue Normen und Zwänge“
Die Psychologin Sandra Konrad hat darüber geschrieben, wie frei Frauen heute sind und wie gleichberechtigt – und wie wenig sexuelle Freiheit Selbstbestimmung bedeutet
taz: Frau Konrad, „die Frau als sexuell selbstbestimmtes Wesen“, schreiben Sie, „ist eine Fata Morgana“. Wie meinen Sie das?
Sandra Konrad: Wenn eine Frau sich heute sexuell selbstbestimmt verhält und dann eine Grenzverletzung stattfindet, wird ihr Verhalten hinterfragt und kritisiert, nicht das des Mannes. Eine aktuelle repräsentative Umfrage im Auftrag der EU-Kommission zeigt, dass knapp 30 Prozent der Europäer*innen sagen, dass nicht einvernehmlicher Sex in bestimmten Situationen akzeptabel sei.
Welche Situationen sind das?
Wenn die Frau „zu sexy“ gekleidet war, wenn sie freiwillig zu jemandem nach Hause gegangen ist, wenn sie in der Vergangenheit viele Sexualpartner*innen hatte oder wenn sie was getrunken hatte. Das ist alles Victim-Blaming. Dem Opfer wird Schuld zugeschoben, der Täter bleibt erst mal unbehelligt.
43, ist Diplom-Psychologin und Buchautorin. Seit 2001 arbeitet sie als Systemische Einzel-, Paar-, und Familientherapeutin in Hamburg.
Ihr Buch „Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will“ ist erschienen bei Piper (384 S., 24 Euro).
Sandra Konrad im Gespräch mit Jutta Heinrich: So, 6.5., 17 Uhr, Literaturhaus. Anmeldung erbeten: ☎ 040/ 227 92 03, lit@lit-hamburg.de.
Sie unterscheiden Freiheit von Selbstbestimmung.
Sexuelle Freiheit ist das, was die Gesellschaft uns erlaubt. Sexuelle Selbstbestimmung ist, wie wir diesen Raum ausfüllen. Wir sprechen gern von sexueller Befreiung. Viele vergessen, dass damit neue Normen und Zwänge einhergehen, die wir heute in der extremen Sexualisierung der Frau sehen. Sexuelle Selbstbestimmung wäre für mich, wenn Frauen genauso gut Ja wie Nein sagen könnten, und wenn sie für keins von beiden beschämt oder bestraft würden.
Warum das Buch?
Es gab nicht diesen einen auslösenden Moment. Das waren vielmehr Beobachtungen im Alltag. Zum Beispiel, wie geschmeidig Frauen über Sexismus hinweggehen, weil sie nicht als zickig gelten wollen. Oder wie Frauen zum Schweigen gebracht werden: indem man sie nicht ernstnimmt, sie als sexuell unattraktiv bezeichnet, wenn sie eine unbequeme Meinung vertreten, oder ihnen mit Gewalt droht, wie es Netzfeministinnen im Internet erleben. Das macht mich wütend und traurig zugleich.
Sind Sie bei der Recherche auch auf Abwehr gestoßen?
Ja. In meinem Bekanntenkreis wehrten viele Frauen das Thema Gleichberechtigung als erledigt ab. Wenn ich sie dann fragte, warum das Älterwerden für Frauen oft schlimmer sei als für Männer oder ob sie schon mal eine sexuelle Grenzverletzung erlebt hatten, ebbte der Protest ab.
Wie reagierten die Männer?
Sie fühlten sich teils persönlich angegriffen, reagierten mit Wut, wenn ich mit ihnen über die 2000-jährige Geschichte der Beherrschung der Frau sprach. Es hat mich immer wieder geärgert, dass man Fakten über die Zusammenhänge zwischen Sex, Geschlecht und Macht liefern kann – und die will niemand hören. Da habe ich gedacht, ich arbeite das mal genau heraus – ausgehend von jenen Epochen, in denen Männer das herrschende Geschlecht waren, bis in die Gegenwart, in der Frauen verinnerlicht haben, was von ihnen erwartet wird.
Ihre zentrale These.
Ja. Aus männlicher Herrschaft wurde weibliche Selbstbeherrschung, aus gesellschaftlichen Forderungen wurden weibliche Wünsche.
Haben Sie auch Erfahrungen aus Ihrer Arbeit als Psychotherapeutin verarbeitet?
Meine vorherigen Bücher über das emotionale Erbe in Familien und Beziehungsmythen sind stark mit meiner therapeutischen Arbeit verknüpft. Die Zitate meines aktuellen Buchs stammen aus Interviews mit Frauen, die nicht meine Klientinnen waren. Allerdings haben mich die Aussagen an junge Klientinnen der letzten Jahre erinnert. Da war oft Thema, wie schwierig es ist, bei all den Normen eigene Bedürfnisse zu erkennen und dazu zu stehen.
Inwiefern?
Vielen jungen Frauen scheint es leichter zu fallen, sich den Bedürfnissen des Mannes anzupassen, als individuelle Grenzen zu setzen, wenn sie etwas nicht mögen. Und oft kennen sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht sehr gut. Freud hat ja vor über 100 Jahren gefragt: Was will das Weib? Und was weibliches Begehren betrifft – da gibt es noch immer so viele Fragezeichen.
Sie haben mit 70 Frauen gesprochen, 18 bis 45 Jahre alt.
Meine Kernfrage war, wie frei und sexuell selbstbestimmt können Frauen heute leben. Da waren besonders die Frauen zwischen 18 und 30 wichtig, deren Erfahrungen ganz andere sind als meine: Wie ist es, in einer Zeit aufzuwachsen, in der man mittels Pornografie aufgeklärt wird? In der Sex einen so hohen Stellenwert hat, aber ihm oft keine emotionale Bedeutung beigemessen wird. Wie ist es, wenn alle sagen, wir sind gleichberechtigt und parallel Alltagssexismus, Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt alltäglich sind?
Wie sprechen die heute 20-Jährigen über Sexualität?
Viel freier als zu meiner Zeit. Überrascht hat mich dann aber diese Diskrepanz: Alle sahen sich als sexuell selbstbestimmt. Gleichzeitig erzählten sie, dass sie sich den Wünschen des Mannes anpassten, auch gegen eigenes Unbehagen – jedenfalls bei Gelegenheitssex. In verbindlichen Beziehungen entwickelt sich das oft gleichberechtigter. In unverbindlichen Beziehungen aber war es wichtiger, dem anderen zu gefallen, als sich selbst gut zu fühlen und eigene Bedürfnisse zu formulieren.
Die neuen Normen, die mit der sexuellen Freiheit einhergehen.
Ja. Frauen sollten in der Vergangenheit passiv und sexuell desinteressiert sein. Die ideale Frau von heute soll sexuell aktiv sein und Gefühle und Sex säuberlich trennen. Frauen dürfen alles, aber sie sollen bitte auch alles.
Und überschreiten daher eher ihre eigenen Grenzen?
In der Tat besteht das Tabu heute darin, Grenzen zu setzen. Ich hatte in meinen Zwanzigern nicht das Gefühl, dass ich das nicht darf. Ich finde es wunderbar, dass Frauen heute Sex genießen können, ohne irgendwelche Treueschwüre leisten zu müssen. Viele junge Frauen trauen sich aber im Umkehrschluss kaum zu sagen, wenn bei ihnen Gefühle ins Spiel kommen. Das gilt als uncool, abhängig.
Schon im Studium haben Sie sich mit den Biografien von Prostituierten befasst, auch im Buch ist Prostitution Thema.
Prostitution lehrt uns als Gesellschaft, dass die Frau eine Ware, dass der weibliche Körper käuflich ist und dass der Mann über Geld die Macht hat. Die ganzen Ausbeutungs- und Gewaltprozesse, die in der Prostitution laufen, werden geleugnet. Man hört immer wieder die gleichen Argumente: dass es immer schon so war. Dass es sonst mehr Vergewaltigungen geben würde. Und die Mythen von der Happy Whore, der glücklichen Hure, die ihr Hobby zum Beruf macht.
Was halten Sie von den Diskussionen um die selbstbestimmte Sexarbeiterin?
Wenn diese liberale Haltung an Ignoranz und Empathielosigkeit grenzt, macht es mich wütend. Es gibt ja Studien darüber, und viele Gespräche mit ehemaligen Prostituierten – auch ich habe welche geführt – belegen es: Gewalt und Traumatisierung sind an der Tagesordnung. Auch Zahlen helfen da immer ganz gut: Expert*innen schätzen, dass 60 bis 90 Prozent Zwangsprostituierte sind. Die selbstbestimmte Studentin, die sich nebenbei was verdient, liegt bei ungefähr zwei Prozent.
Promoviert haben Sie über die Weitergabe von Schoah-Traumata durch jüdische Frauen. Was hat Sie daran interessiert?
Als ich 2006 promovierte, stieß auch dieses Thema auf Abwehr. Gerade in Deutschland hieß es oft: Das ist doch alles vorbei. Aber es ist eben nichts vorbei, weil die Geschehnisse nicht verarbeitet werden konnten. Inzwischen ist das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata auch jenseits der Fachwelt viel bekannter.
Was verbindet Ihre Arbeiten miteinander?
Mich interessiert immer: Wie werden wir so, wie wir sind? Welchen Einflüssen sind wir ausgesetzt? Welche Auswirkungen hat Gewalt? Das bedeutet auch, dass ich mir die abgespaltenen Schattenseiten unserer Realität und Sozialisation ansehe. Ich möchte das ganze Bild sehen. Ich will wissen: Wie frei sind wir wirklich?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen