Psychische Belastung in Russland: Atmen gegen den Krieg

Immer mehr Rus­s:in­nen suchen psychologische Dienste auf. Sie schämen sich für die Gräueltaten, die in ihrem Nachbarland passieren.

Menschen laufen auf der Straße an einem geschlossenen Geschäftz vorbei

Vermeintlicher Alltag: Nur eine geschlossene H&M-Filiale stört das Bild der Normalität in Moskau Foto: afp

MOSKAU taz | Nach den Bildern aus Butscha häufen sich in der russischen Telegram-Gruppe Dum spiro spero („Während ich atme, hoffe ich“) wieder die Kommentare. „In den letzten Wochen habe ich es irgendwie geschafft, die Situation anzunehmen, ich will nicht sagen, mich daran gewöhnt zu haben, aber Kinder, Job, Haushalt müssen ja bewältigt werden. Jetzt fehlt mir wieder die Luft“, schreibt eine Frau. „Butscha. Mir fehlen die Worte. Alles ist eingefroren in mir. Ich kann mit niemandem darüber sprechen. Ich verstehe die Welt nicht mehr“, meint eine andere.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben Psy­cho­lo­g*in­nen und Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen den Kanal ins Leben gerufen. Sie haben Wege gesucht, schnell Hilfe zu leisten. Weil sie sich selbst hilflos fühlen, beschämt und schuldig, so wie viele andere Rus­s*in­nen auch. Sie bieten Qigong an, Gruppensitzungen per Zoom, mehrmals am Tag. Sie geben den Frauen und Männern in ihrer Verlorenheit Mittel an die Hand, ihren Alltag zu meistern. Irgendwie. Zuletzt wurden die Sitzungen weniger, die Schreie der Verzweiflung leiser. Bis die Bilder aus Butscha in der Welt waren. Und die Bilder aus Borodjanka. Die Erzählungen aus Mariupol.

Trotz all der Nachrichtensperren, der Blockierung der Sites, der Verbote, die der russische Staat Journalist*innen, Blo­g­ge­r*in­nen und den sozialen Medien im Land auferlegt hat, erreichen die Nachrichten aus der Ukraine viele Russ*in­nen. Viele haben das Gefühl, dass sie den Boden unter ihren Füßen verlieren, und sie suchen Hilfe bei Psy­cho­lo­g*in­nen.

„Im Moment spüren viele, dass das Leben vor den eigenen Augen auseinanderbrechen kann. Immer und immer wieder. Es ist eine lang anhaltende Krise“, sagt Vera Jakupowa. Auch bei der Moskauer Psychologin häufen sich seit dem 24. Februar die Anrufe. „Was tun?“, „Wie weiterleben?“, „Wie sich überhaupt bewegen?“, fragen die Menschen. Mit ihrer ruhigen und hellen Stimme sagte die 33-Jährige: „Atmen. Tief einatmen, Luft anhalten, langsam wieder ausatmen.“ Es sind einfache Dinge wie Atemtechniken, die die Menschen beruhigen sollen.

Vor wenigen Jahren hat Jakupowa Good Point gegründet, eine Anlaufstelle für russische Familien, die sich Gedanken darüber machen, was für Eltern sie für ihr Kind sein wollen. Weg von Gewalt, weg von Drohungen, weg von Überzeugungen, die sie von ihren eigenen, sowjetisch geprägten Eltern erfahren haben. Sie stellen diese Überzeugungen infrage, die Erwartungen von außen, die Glaubenssätze, die in Russland darauf beruhen, dass der erfahrene Erwachsene schon wisse, was gut für das unwissende Kind ist. Dahinter liegt die Annahme, dass das Kind sich zu unterwerfen hat. Sie suchen etwas Neues für sich und ihr Kind. Aber auch Hilfe bei unerfülltem Kinderwunsch, bei Wochenbettdepressionen oder bei partnerschaftlichen Problemen. Sie können sich es leisten.

Nachfrage um 111 Prozent gestiegen

Denn gerade in Putins Russland haben es einige Menschen zu einem gewissen Lebensstandard gebracht, bei dem es nicht mehr um reines Überleben geht. Genauso wie man einen Orthopäden oder eine Zahnärztin aufsucht, macht man mittlerweile Termine bei Psy­cho­lo­g*in­nen und Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen aus. Der Markt dafür ist in Russland in den vergangenen Jahren stetig gewachsen.

In den vergangenen Wochen noch mehr: So rechnete die Karriereplattform HeadHunter vor, dass die Nachfrage nach Psy­cho­lo­g*in­nen um 111 Prozent gestiegen ist. Mehr als 500 Psy­cho­lo­g*in­nen wurden über die Plattform seit Ende Februar gesucht. Es gab einen regelrechten Ansturm auf die Anlaufstellen, weil mit dem Angriff auf die Ukraine viele Menschen den Halt verloren haben.

„Die Nachfrage für die Krisenhilfe ist in diesen Tagen enorm gestiegen. Die Menschen befinden sich im Schockzustand, geraten in Panik, denken an Umzug, fühlen sich bedroht. Psychologische Unterstützungsgruppen, sonst in Russland nicht sonderlich beliebt, sind nun plötzlich sehr gefragt“, erzählt Vera Jakupowa. Auch Good Point bietet nun kostenlose Beratung an, macht Eltern-Kind-Kurse oder eine Extragruppe für Schwangere. Alles online und mit Russischsprachigen auf der ganzen Welt. Bereits die Pandemie habe sie gelehrt, flexibel zu reagieren. Aus dieser Erfahrung schöpfen die Mit­ar­bei­te­r*in­nen nun. Sie haben ihre Angebote erweitert, bieten vermehrt gemeinsame Eltern-Kind-Kurse an.

Völlig neue Situation

Und doch stellt der Krieg, der in Russland nur „militärische Spezial­operation“ genannt werden darf, auch sie vor unbekannte Herausforderungen. „Für uns als Psychologen ist die Situation vollkommen neu“, sagt sie. So hatte bislang noch niemand von den russischen Psy­cho­lo­g:in­nen mit den Folgen von kriegerischen Kampfhandlungen zu tun. Und nun wenden sich Menschen an sie, die selbst oder über Verwandte davon betroffen sind. Auch stehen sie nicht mehr außerhalb des Problems, das ihre Klienten zu bewältigen haben. Sie beobachten nicht mehr nur aus der Distanz. Sie sind plötzlich auch ein Teil dessen, was gerade passiert. Alles, was ihre Klienten ihnen erzählen, erleben sie ähnlich in der ein oder anderen Form, so Jakupowa.

Psychologie und Psychiatrie haben im Land auch aus historischen Gründen einen schweren Stand. Zu Sowjetzeiten war der politische Missbrauch der Psychiatrie eine wichtige Methode der Repression. Wegen „Befunden“ wie „Wahnvorstellungen von Reformismus“ wurden viele Andersdenkende für Jahre in Hochsicherheitsabteilungen psychiatrischer Kliniken gefangen gehalten. Die „Diagnosen“ stellten die Ärz­t*in­nen zuweilen auch in Abwesenheit ihrer „Patient*innen“. Sich mit Problemen an jemand Fremdes zu wenden und diesem einzugestehen, dass man selbst etwas nicht kann, galt in der patriarchalen Kultur Russlands als Eingeständnis der eigenen Schwäche.

In den vergangenen Jahren hat sich die Psychologie allerdings vor allem im großstädtischen Milieu fast schon zu einem Muss entwickelt, als persönliche Gesundheitspflege, die einfach dazugehört. Es entstanden spezielle Hotlines für Männer, Kurse für Eltern, Austauschgruppen für Mütter. Onlinedienste wie Jasno („Klar“) bieten mit ein paar Klicks mehrere Tausende Spe­zia­lis­t*in­nen an.

In Zeiten der „Spezialoperation“ hat Jasno ebenfalls schnell auf Krisenhilfe umgestellt. Gerade in den ersten Tagen nach dem russischen Angriff auf das Nachbarland seien die Fälle akut gewesen, berichtet auch Vera Jakupowa. „Wir hören zu, weil viele sich selbst in den Familien nicht trauen, von ihren Sorgen zu berichten, um die anderen nicht noch zusätzlich zu belasten“, sagt sie. „Wir helfen, Ängste zu strukturieren.“ Und sie atmen, gemeinsam mit ihren Klient*in­nen.

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