Psychiater über Angst und Corona: „Eigentlich eine sinnvolle Reaktion“
Angst vor einem Kontrollverlust: Psychiater Jan Kalbitzer über die teils berechtigte Angst in Corona-Zeiten und kontraphobisches Verhalten.
taz: Herr Kalbitzer, das Virus, das uns gerade in Atem hält, macht vielen Menschen Angst. Ist das für Menschen mit psychischen Beschwerden, wie Sie sie in Ihrem Berufsalltag erleben, noch schlimmer?
Jan Kalbitzer: Das ist sehr unterschiedlich. Von meinen Patienten, die schon vorher unter starken Ängsten gelitten haben, werden manche deutlich ruhiger, jetzt, wo der Shutdown tatsächlich da ist. Ängste sind ja nicht vollständig unrealistisch. Oft beziehen sie sich auf reale Dinge, und es ist eine wichtige Funktion des Grübelns und der Sorgen, sich gedanklich auf Gefahren in der Zukunft vorzubereiten. Krankheitswert entsteht nur dann, wenn man sich zu viel sorgt und grübelt, wenn das nicht mehr produktiv ist und die Stimmung immer schlechter wird.
Das erinnert mich an den Film „Melancholia“ von Lars von Trier. Da ist die schwer depressive Protagonistin angesichts des nahenden Weltuntergangs auf einmal die einzige, die eine gewisse Stabilität ausstrahlt.
Wie gesagt: Viele psychische Erkrankungen sind in ihrem Grundmuster vernünftige Reaktionen auf potenzielle Gefahren. Deswegen kann es durchaus sein, dass die eintretende reale Gefahr dazu führt, dass Menschen, die psychische Krisen haben, besser mit der Situation umgehen können. Viele Menschen hatten in den vergangenen Wochen Angst vor einem Kontrollverlust, weil sie den Eindruck hatten, von staatlicher Seite werde nicht ausreichend reagiert – was ja auch von einigen Medien befeuert wurde. Vielen von denen geht es jetzt besser: Sie haben sich ja schon vorbereitet, eingekauft, sie sind versorgt.
42, ist Psychiater und leitet die Stressambulanz der Oberberg Tagesklinik Kurfürstendamm.
Viele Menschen tun aber auch so, als sei ihnen Angst völlig fremd.
Es gibt „kontraphobisches“ Verhalten, das heißt: Menschen reagieren mit Verdrängung oder übermäßigem Risikoverhalten, weil sie von der Angst nicht kontrolliert werden wollen. Auch das ist eigentlich eine sinnvolle Reaktion. In der aktuellen Situation ist das ziemlich gefährlich und unsozial.
In der Krise passiert aber noch mehr: Wenn es zur häuslichen Isolation kommt, wird es schwieriger, sich von bestehenden psychischen Störungen abzulenken.
Ja, für Menschen, die unter psychischen Beschwerden leiden, kann das jetzt sehr belastend sein. Zu den wichtigen Faktoren, die jetzt wegfallen oder wegfallen könnten, gehören die strukturierende Funktion von Arbeit oder soziale Kontakte – und nicht zuletzt einfach Bewegung. Gerade für Menschen, die unter einer Depression oder Ängsten leiden, ist es jetzt ganz wichtig, diese drei Faktoren weiter umzusetzen, wenn auch vielleicht auf andere Weise. Wenn man nicht arbeitet oder das von zuhause aus tun muss, ist es wichtig, den Tag zu strukturieren. In Kontakt mit anderen bleiben kann man auch über digitale Medien, vielleicht sogar etwas mit der Hausgemeinschaft organisieren, bei dem man anderen zwar nicht körperlich nah kommt, aber trotzdem auf Sicht in Kontakt bleibt. Sie könnten beispielsweise sagen: In unserem Haus gehen wir alle um acht Uhr auf den Balkon und grüßen uns.
Die Krise kann also entlasten als auch psychische Beschwerden verstärken?
Wir pauschalisieren ja gerne, aber natürlich gibt es ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen. Zum Beispiel die, die ganz alleine leben, vielleicht nicht mal ein Haustier haben und jetzt völlig auf sich zurückgeworfen sind. Und auf der anderen Seite Familien oder WGs, die plötzlich auf engem Raum sehr viel Zeit miteinander verbringen. Die müssen sich auf einmal über Regeln auseinandersetzen, da brechen neue Konflikte auf.
Aber Gemeinschaft kann auch Halt geben.
Natürlich, beides hat Vor- und Nachteile. Eltern, die sich jetzt den ganzen Tag um ihre kleinen Kinder kümmern, beneiden vielleicht diejenigen, die alleine sind und Bücher lesen oder Serien gucken können. Während es denen total fehlt, einfach mit jemand anderem in Kontakt zu sein, sich im Vorbeigehen einmal kurz zu berühren oder in den Arm zu nehmen. Die, die jetzt auf sich zurückgeworfen sind, haben weniger Konflikte mit anderen und müssen dafür sehr viel mit sich selbst klären. Dadurch haben sie ein größeres Risiko, in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit, Trauer oder Lähmung zu geraten. In den Familien ist es dagegen wahrscheinlicher, dass Konflikte entstehen, dass man sich streitet und Beziehungen gefährdet sind, weil Rückzugsräume fehlen.
Wie stellen Sie sich selbst beruflich auf die aktuelle Situation ein?
Ich biete jetzt psychiatrische Sprechstunden und auch Psychotherapie per Video an, denn gerade die Menschen, die jetzt nicht rausgehen, brauchen Unterstützung. Da ist Videotherapie eine Riesenchance, und die Kassenärztliche Vereinigung sollte prüfen, ob sie nicht schnell einfache Möglichkeiten der Abrechnung schaffen kann. In Berlin haben viele Psychotherapeuten keinen Kassensitz und arbeiten zurzeit nach dem sogenannten Kostenerstattungsverfahren. Gleichzeitig gibt es Regionen, die psychotherapeutisch völlig unterversorgt sind. Über die digitalen Medien könnten wir da für Ausgleich sorgen.
Kann man denn so eine Leistung einfach in digitaler Form anbieten?
Natürlich fehlt der direkte menschliche Kontakt, der auch sehr wichtig ist. Trotzdem sind die Befunderhebung und auch das Gespräch digital leicht möglich, während ein Arzt seine Patienten nicht einfach übers Internet mit dem Stethoskop abhören kann. Es ist mit Sicherheit etwas, das man üben sollte. Einem Therapeuten, der das noch nie gemacht hat, würde ich empfehlen, diese Kommunikationsform erst mit Freunden auszuprobieren, um zu erkennen, worauf man achten muss. Das können die Sachen sein, die bei einem im Hintergrund im Bild stehen, oder Geräusche, die bei der Aufzeichnung entstehen, auch der veränderte Blickkontakt. Man kann Menschen per Video nicht direkt in die Augen schauen, entweder man blickt in die Kamera oder auf die Augen des anderen, aber auf dem Bildschirm. Das verändert ein Kommunikationsmuster.
Wenn wir bei FreundInnen, Bekannten, KollegInnen in der aktuellen Situation den Eindruck bekommen, dass ihnen die Situation über die Maßen Angst macht oder sie bedrückt, sollten wir auf sie zugehen? Oder ist das übergriffig?
Ich finde es sehr sinnvoll, jetzt auf Menschen zuzugehen, von denen wir wissen, dass sie unter Krisen leiden. Und auch da steckt in den digitalen Möglichkeiten jetzt eine große Chance, um für unsere Community zu sorgen. Wie weit man gehen kann, muss man sehen: Gerade bei losen Kontakten in sozialen Netzwerken ist es manchmal schwierig, das richtige Maß zu finden. Ich würde mit Menschen anfangen, mit denen ich auch sonst mehr im Kontakt stehe, deren Situation ich besser einschätzen kann. Sollte man natürlich in den sozialen Netzwerken mitbekommen, dass jemand in Not ist, macht es Sinn, die Person im Privatchat anzuschreiben und zu fragen, ob man helfen kann. Oder ihr einfach ein Gespräch anzubieten.
Wie ist es mit Kindern – kann die radikale Veränderung des Gewohnten und der Verlust von Sicherheit sie traumatisieren? Saugen sie jetzt nicht regelrecht die Ängste der Eltern auf?
Sie kennen vielleicht „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni. Da geht es ja darum, dass der Vater unter schwierigsten Umständen, nämlich in einem Konzentrationslager, seinem Sohn vorspielt, das Ganze sei eigentlich eine wunderbare Situation. So kitschig ich den Film finde, und auch, wenn das natürlich sehr überzogen ist – im Kern geht es darum, Kinder vor Ängsten, vor allem auch den Ängsten der Eltern, ein Stück weit zu schützen. Gleichzeitig muss man ihnen die Situation erklären. Man kann ihnen sagen, dass gerade eine Erkältung umgeht, die für Kinder und jüngere Erwachsene nicht so gefährlich ist, dass sie keine Angst um sich und vielleicht auch nicht um die Eltern haben müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen