Depressionen und die Coronakrise: Das Virus kann auch helfen
Psychotherapeuten berichten: Das „handfeste Alltagsproblem“ Corona relativiere bei manchen Patienten das persönliche psychische Leid.
Es gibt auch gute Nebenwirkungen in Zeiten von Corona. „Die Coronakrise hat überraschend auch die Eigenschaft, zu stützen“, berichtet die Psychotherapeutin Natalia Erazo aus Eching bei München. „Das psychische Leid rückt bei manchen etwas aus dem Zentrum des Erlebens, es scheint in der Corona-Sorge etwas aufgehoben. Es gibt nun Konkretes zu besprechen, zu organisieren, zu erschaffen.“
Die Beobachtungen von Erazo finden sich in einer Sammlung von Berichten darüber, was sich in psychotherapeutischen Praxen und Beratungsstellen durch die Coronakrise verändert hat. Die Berichte, besonders aus ländlichen Regionen, hat die Bundespsychotherapeutenkammer veröffentlicht und es zeigt sich ein unerwartet differenziertes Bild.
Die PatientInnen hätten jetzt „handfeste Alltagsprobleme“, was das persönliche psychische Leiden relativiere, stellt Erazo fest. Das erinnert an Forschungen in Kriegsgebieten, wonach die Panikwerte bei ausgewiesenen Angstpatienten in einer realen Bedrohungssituation nicht steigen, sondern sogar sinken können. Krankhafte Panikattacken spielen sich in einem anderen Hirnareal ab als die Furcht vor einer realen Bedrohung.
Bei Erazo nehmen zwei Drittel der PatientInnen die Möglichkeit der Videobehandlung wahr. Dies ist nicht jedermanns Sache, schließlich sitzen die Leute in ihren Privaträumen vor dem Bildschirm und reden über Trauer und Angst, während möglicherweise der Partner im Nebenzimmer rumort und das Bild auch mal wackelt. „Der Schutzraum der Praxis fehlt“, meint Erazo. Auch die TherapeutInnen müssten sich mehr konzentrieren, wenn sie nur das Gesicht und die Stimme der Patientin auf dem Bildschirm vor sich haben, heißt es in den Berichten.
Videokontakt für soziale Phobien
Für Kinder und Jugendliche, die unter einer sozialen Phobie, also unter Kontaktangst leiden, kann die Umstellung von einer persönlichen auf eine Video-Therapie auch eine Entlastung bedeuten. Diese Video-Gespräche verliefen „einfacher als normal“ heißt es in dem Bericht von Christine Breit, Kindertherapeutin in Neuhausen in Baden-Württemberg.
Depressive Kranke fühlen sich durch Corona möglicherweise sogar etwas entlastet, weil die anderen ja derzeit auch kein tolles Sozialleben haben. Für die Behandlung ergibt sich aber ein Problem. „Als Psychotherapeut empfehle ich ihnen normalerweise genau das Gegenteil. Ich versuche, sie zu aktivieren, sie zu motivieren, etwas zu unternehmen und Familie und FreundInnen zu treffen“, erklärt der Psychotherapeut Hans-Peter Brettle im rheinland-pfälzischen Landkreis Wittlich.
Corona ist Stress: Existenzängste belasten die PatientInnen, die Kinder müssen zu Hause betreut werden. In manchen Familien „hocken sich gerade alle sehr eng auf der Pelle. Für einige bestehen jetzt zu wenig Rückzugsmöglichkeiten“, schildert Oleg Winterfeld, Psychotherapeut im rheinland-pfälzischen Alzey.
Jörg Hermann, Psychotherapeut im niedersächsischen Landkreis Wolfenbüttel, berichtet von dem Fall einer chronisch-depressiven Mutter, der die gewohnten Tagesabläufe verlorengingen. Da die Kinder nicht mehr zur Schule gingen, fiel der fixe Startpunkt am Morgen weg. „Insbesondere psychisch erkrankte Menschen haben jetzt noch größere Schwierigkeiten, das innere Gleichgewicht zu wahren“, so Hermann über die Coronakrise.
Die Erfahrungen in der Coronakrise sind auch ein unfreiwilliger Großversuch, was die Videosprechstunden betrifft: Es zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen künftiger Fernbehandlungen, und das ist bedeutsam für die künftige Versorgung im ländlichen Raum. Dort mangelt es an TherapeutInnen vor Ort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“