Prozess wegen NS-Massakers in Italien: 93-Jähriger soll doch vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft wollte den Kriegsverbrecher-Prozess gegen einen Altnazi einstellen. Ein Opferverein hat nun durchgesetzt, dass er angeklagt wird.
HAMBURG taz | Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Gerhard Sommer aus Hamburg muss womöglich doch noch wegen vielfachen Mordes oder zumindest wegen Beihilfe vor Gericht. Der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) in Karlsruhe wischte in einem Klageerzwingungsverfahren die Bescheide der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwalt Stuttgart, die Verfahren wegen des Massakers in Sant’Anna di Stazzema in der Toskana einzustellen, vom Tisch.
Dem heute 93-jährigen Sommer wird vorgeworfen, als Kommandeur der SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ am 12. August 1944 befohlen zu haben, das Dorf Sant’Anna di Stazzema zu umstellen. „In einem Stall wurden 70 Menschen, Kinder, Frauen und alte Leute zusammengepfercht. Kaum waren sie eingeschlossen, warfen die Nazis Handgranaten rein“, berichtet der Überlebende Enio Mancini vom „Verein der Opfer von Sant’Anna“ der taz. Insgesamt wurden 560 Menschen ermordet.
„Wir wollen keine Rache, aber Gerechtigkeit“, sagte Enrico Pieri vom Opferverein, der die Klage vorangetrieben hatte. Seine Hamburger Anwältin Gabriel Heinecke bewertet den Karlsruher Richterspruch als einen „Durchbruch gegen die Amnestie für überlebende NS-Kriegsverbrecher“.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte 2012 argumentiert, eine bloße Teilnahme an dem Einsatz könne keinen strafbaren Tatbeitrag begründen. „Die Mordmerkmale wie Grausamkeit müssen dem Einzelnen nachgewiesen werden“, sagte der damals ermittelnde Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler der taz.
Keine „vernünftigen Zweifel“
Das sieht das OLG Karlsruhe anders. Auf der Basis von Augenzeugenberichten und historischen Gutachten bestehe ein „hinreichender Tatverdacht“, dass Sommer Führer der SS-Kompanie war und als solcher hinreichend verdächtig sei, am Tattag in Sant’Anna di Stazzema im Einsatz und in strafrechtlich verantwortlicher Weise an der Ermordung mehrerer Hundert Zivilisten, vornehmlich Frauen und Kinder, beteiligt gewesen zu sein. Insbesondere bestehen nach Ansicht der Richter keine „vernünftigen Zweifel“, dass die Befehle und die Einsatzplanung, die dem Beschuldigten als kommandierendem Offizier bekannt waren, nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant’Anna di Stazzema gerichtet waren.
Sommer lebt seit Jahren unbehelligt in einer noblen Seniorenanlage in Hamburg, obwohl Europäischer Haftbefehl gegen ihn besteht. Ein italienisches Militärgericht verurteilte Sommer 2005 zu lebenslanger Haft und zur Zahlung von 100 Millionen Euro Entschädigung. Ein Militärgericht in Rom wies Sommers Revision dagegen ab und bestätigte das Urteil. Den Auslieferungsbegehren Italiens ist Deutschland bis heute nicht nachgekommen.
Nach Überzeugung des OLG Karlsruhe ist Sommer trotz seines hohen Alter „eingeschränkt verhandlungsfähig“. Die Behauptung der Tochter, er sei schwer an Demenz erkrankt, widerlege ein Gutachten. Das Karlsruher Gericht kann jedoch die Staatsanwaltschaft in Hamburg nicht anweisen, Anklage zu erheben. Vielmehr muss die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren nach Hamburg abgeben. Die dortige Staatsanwaltschaft muss prüfen, ob sie Anklage erhebt.
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