Prozess um versuchten Femizid: Wie jeden Tag in Deutschland
Bei Femiziden ist der Täter häufig der Partner oder Ex-Partner der Frau. In Hamburg starten zwei Prozesse, deren Tathergang sich erschreckend ähnelt.
Doch auf den zweiten Blick ist das alles andere als ein Zufall: Schließlich stirbt statistisch gesehen an jedem dritten Tag in Deutschland eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Jeden einzelnen Tag registriert die Polizei einen Tötungsversuch an einer Frau. Auch wenn längst nicht alle Täter vor Gericht landen, finden sich auf den Terminrollen der Staatsanwaltschaften zahlreiche Verfahren wegen versuchten oder vollendeten Femizids.
Der Angeklagte Thomas P. wird am Montag aus der Untersuchungshaft in den Gerichtssaal geführt. Er hält sich eine Mappe vor das Gesicht, als die Fotograf*innen Bilder machen, anschließend verdeckt ein Mund-Nase-Schutz seinen Gesichtsausdruck zum Teil. Erklären wird er sich heute nicht, aber eine Regung wird er später noch zeigen.
Die Staatsanwältin liest die Anklage vor: P. soll seine damalige Partnerin 57 Mal heimlich mit seinem Handy durch das Schlüsselloch des Badezimmers ihrer gemeinsamen Wohnung gefilmt haben, während sie duschte. Dabei soll er den Fokus auf ihren Vaginalbereich gerichtet haben. Über fast zwei Jahre habe er damit tief in die Persönlichkeitsrechte der Geschädigten eingegriffen und sie in ihrem intimsten Lebensbereich verletzt. Auf jede der 57 Einzeltaten steht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe.
Im männlichen Besitzanspruch verletzt
Die 58. Tat ereignete sich im Mai: Die Geschädigte, die dem Prozess nicht beiwohnt, sich aber als Nebenklägerin durch eine Anwältin vertreten lässt, habe gegenüber P. verkündet, sie wolle sich scheiden lassen, er solle seine Sachen packen und die Wohnung verlassen. P., der sich nach den Worten der Staatsanwältin „in seinem Macht- und Besitzanspruch verletzt“ gesehen habe, habe ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen, sich über sie gekniet und sie gewürgt. Sie habe sich gewehrt, geschrien und in seine Hände gebissen.
Damit die Nachbarn nichts hörten, habe P. von ihr abgelassen und das Schlafzimmerfenster geschlossen. Dann habe er sich auf ihren Brustkorb gesetzt und sie mit zusammengebundenen Kabelbindern gewürgt, bis sie das Bewusstsein verlor. „Er glaubte, sie getötet zu haben und verließ die Wohnung“, sagt die Staatsanwältin. Auf versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung steht eine lebenslange Haftstrafe.
Als der vorsitzende Richter mit der Beweiserhebung beginnt, spielt er die Aufnahmen von drei Notrufen vor, die kurz nach der Tat bei Polizei und Feuerwehr eingingen – zwei von P. selbst, einen von seinem Vater. „Meine Frau kriegt keine Luft“, sagt P. am Telefon. Auf die Frage des Polizisten, ob die Geschädigte noch ansprechbar sei, sagt er: „Sie ist blau.“
Als Polizei und Rettungskräfte eintreffen, finden sie die Frau mit schwerem Sauerstoffmangel in akuter Lebensgefahr vor. Den Sanitäter*innen gelingt es, die Frau zu stabilisieren. Laut ihrer Anwältin trägt sie keine bleibenden Hirnschäden davon.
Warum rief der Angeklagte selbst die Polizei?
Vieles könnte sich in dem bis Februar terminierten Verfahren um die von P. abgesetzten Notrufe drehen. Der Vorwurf des versuchten Mordes kann gekippt werden, wenn ein Täter während der Tat einen „strafbefreienden Rücktritt“ unternimmt, indem er seinen Versuch selbst torpediert, etwa durch einen Notruf.
Dann blieben in diesem Fall „nur noch“ die Vorwürfe der gefährlichen Körperverletzung und des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte. Dafür, dass der Angeklagte versuchen wird, in diese Richtung zu argumentieren, spricht, dass P. Emotionen zeigt, als die Notrufe eingespielt werden: Er senkt den Kopf, stützt die Stirn auf die Hand, fasst sich auf die geschlossenen Augen, wie um Tränen zu unterdrücken. Für den nächsten Termin in der kommenden Woche hat seine Verteidigerin eine Erklärung seinerseits angekündigt.
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