Prozess um Mord an zwei Kindern: Eine „Bestie in Menschengestalt“?
Im Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Elias und Mohamed soll am Dienstag das Urteil fallen. Wie tickt der Angeklagte Silvio S.?
Die letzten Worte – jeder Angeklagte darf sie seinen Richtern mitgeben, bevor diese über das Urteil beraten. Für Silvio S. sind es zugleich die ersten Worte, die er in seinem Prozess im Saal 8 des Potsdamer Landgerichts äußert.
Er hat sie auf einen Zettel geschrieben. Er ist aufgeregt, zittert, räuspert sich: „Ich möchte mich eigentlich nur entschuldigen bei allen, denen ich mit meinen Taten Leid zufügte, bei den Familien und Freunden von Elias und Mohamed. Ich bereue, was ich getan habe, und weiß auch, dass es nicht entschuldbar ist. Es gibt kein Wort auf der Welt, was beschreiben könnte, wie leid mir das tut. Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun. Ich selbst kann mir das nicht verzeihen und werde in Haft alle Behandlungen annehmen, die mir angeboten werden, damit mir so etwas auf keinen Fall noch einmal passiert. Egal, wie das Urteil auch ausfällt: Die Verantwortung für die schrecklichen Taten und den Tod von Mohamed und Elias wird immer bleiben. Genauso die Gewissheit, dass ich das nicht wiedergutmachen kann.“
S. hat sein Schweigen gebrochen – und doch wieder nicht. Die drängendsten Fragen ließ der 33-Jährige, des zweifachen Kindermordes Angeklagte, offen: die nach weiteren Opfern. Und wie der sechsjährige Elias aus Potsdam vor einem Jahr starb.
So wird die 1. Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Theodor Horstkötter alle Beweise und vor allem die Gutachten Revue passieren lassen. Er muss abwägen zwischen Wahrscheinlichkeiten und individueller Schuld, zwischen der plakativen Brandmarkung des Staatsanwalts, der die „Bestie in Menschengestalt“ auf der Anklagebank sitzen sieht, und dem „schüchternen, zurückhaltenden“ Nachbarn, der mit jedem Kind „bombig“ ausgekommen ist, wie sich Verwandte und Bekannte erinnern.
Familie S. zieht Anfang der 80er Jahre von Pritzwalk nach Niedergörsdorf in die Nähe von Jüterbog. Auch die Oma siedelte zu der vierköpfigen Familie über. Sie liebt ihren Enkel, versorgt ihn bis zu seiner Verhaftung stets mit einem Mittagessen. Nach der Wende arbeitete der Vater, 20 Jahre älter als die Mutter, weiter in der Landwirtschaft. Die Mutter eröffnete ein Reisebüro, und als das nicht mehr lief, einen Getränkehandel. Sie hat ein positives, vielleicht ein wenig zu dirigistisches Verhältnis zu ihrem Sohn, während der Vater von vielen Zeugen als Tyrann beschrieben wird. Die fünf Kinder aus dessen erster Ehe spielen im Leben der Familie S. keine Rolle.
Schwieriger Berufsweg
Zehn Jahre lang besuchte S. die Schule. Er strengte sich nicht sonderlich an – wozu auch? Bessere Leistungen würden nicht gegen die Demütigungen und Beleidigungen seiner Mitschüler helfen, die würden dennoch nichts mit ihm, dem langsamen, hässlichen Trottel, zu tun haben wollen. Mit der Gesamtnote „Drei“ beendete er die Schule, zu schlecht für eine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker. Zweimal erwies er sich für das raue Klima einer Lehrküche als nicht wendig und robust genug, und auch als gelernter Fliesenleger konnte er sich auf keiner Arbeitsstelle behaupten.
So schulte er schließlich zum Wachschützer um und bewarb sich bei zwei Firmen. Eine befand sich in Ludwigsfelde, die andere im weiter entfernten Teltow. Doch weil die Teltower Firma ihm als erste zusagte, wagte er nicht, in Ludwigsfelde zu unterschreiben. Aus Scheu vor menschlichem Kontakt wählte er die Nachtschicht.
Später versuchte er, in die Tagschicht zu wechseln, aber es wollte keiner mit ihm tauschen. Für S. war dies kein Grund, sich woanders zu bewerben. Wie immer akzeptiert er das Gegebene, indem er sich so gut wie möglich einrichtet. Er wehrte sich nicht gegen den Vorschlag der Mutter, gemeinsam ein Haus zu kaufen, anstatt auszuziehen und seine Wäsche allein zu waschen, seine Finanzen allein zu regeln. „Wenn man es einfach hat, lässt man es nicht so schnell fallen“, begründet er diese Entscheidung gegenüber dem psychiatrischen Gutachter Matthias Lammel.
S. gehorchte auch seinem Vater, der dem erwachsenen Sohn verbot, seinen Wohnbereich abzuschließen. Weil er sich dennoch nach einem Rückzugsort sehnte, pachtete er heimlich einen kleinen Garten, auf den er eine Hütte oder einen Wohnwagen stellen wollte. Dieser bescheidene Wunsch scheiterte am Geld und an den Auflagen der Gartenkolonie. Dagegen aufzubegehren war für S. undenkbar.
Fehlende Empathie
Im Laufe der Zeit, im Zuge der permanent erfahrenen Abwertung besonders vonseiten seines Vaters, war aus dem zunächst psychisch gesunden Kind ein Mann geworden, der an einer Persönlichkeitsstörung leidet, welche die Fachleute mit den Adjektiven selbstunsicher, vermeidend, ängstlich beschreiben. Der Gutachter über S.: „Er ist immer jemand gewesen, der wegen seiner Persönlichkeitsstörung am Rande der Gesellschaft entlangmarschiert, und zwar so, dass es ihm verwehrt blieb, Erfahrungen auf dem Gebiet der Empathie zu machen.“
Ohne diese kann man aber keine Beziehung aufbauen – selbst wenn man sich wie S. eine Frau und Familie wünscht, vor lauter Sehnsucht gar Dutzende Kinderköpfe ausschnitt und in ein Album klebte. Nicht einmal zu einer Prostituierten traute er sich.
Die Sicherungsverwahrung ist anders als die Haft keine Strafe für ein Verbrechen. Sie dient dazu, die Allgemeinheit vor Tätern zu schützen, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, aber weiterhin als gefährlich gelten.
Im Gegensatz zur Freiheitsstrafe knüpft die Sicherungsverwahrung einzig an die Gefährlichkeit des Straftäters für die Allgemeinheit an. Diese Gefährlichkeit muss in einer Prognose festgestellt werden.
Eine Prognose für den bislang unbestraften Silvio S. für eine in über 20 Jahren liegende Zukunft abzugeben vermag kein seriös arbeitender Psychiater. Danach befragt antwortete Matthias Lammel deshalb: „Den Hang zu gefährlichen Straftaten kann ich nicht bejahen.“
Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat für S. Sicherungsverwahrung beantragt. (ue)
Wie schon bei seiner Berufswahl richtete sich S. in seinen Defiziten ein, aber auch in seinen Fähigkeiten. Er wusste, dass er mit Kindern gut klarkommt. Die störten sich nicht an seiner schmutzigen Schlabberkleidung, seinen fettigen Haaren, seinem wilden Bartwuchs, seiner Bedächtigkeit. In ihrer Gegenwart konnte er sogar in ganzen Sätzen sprechen, erinnert sich ein Zeuge. Mit ihnen, so der unheimliche Entschluss, der über Jahre in S. gereift sein muss und der zuvor an lebensechten Puppen geübt wurde, wollte er endlich sexuelle Erfahrungen machen.
Gegenüber dem Psychiater sagte er, dass es die Einsamkeit gewesen sei, die ihn dazu brachte, die beiden Kinder mitzunehmen – „und noch etwas anderes, über das ich nicht reden kann“. Das lässt Raum für Spekulationen, an denen es im diesem Fall nicht mangelt. Warum vergriff er sich an Jungen? Wurde S. – das ewige Opfer – möglicherweise selbst als Kind missbraucht? Wollte er das Erlittene mit den von ihm Entführten nacherleben, aus einer anderen Perspektive? Selbst wenn es so gewesen ist, mindert es nicht die Schuld des Täters, der die Neugier und Gutgläubigkeit der Schwächsten ausnutzte.
Trauerkarte mit „Sorry“
Kurz nach seiner Verhaftung berichtete er über das Schicksal von Mohamed – mit einem Grinsen. Ein Ausdruck der Verlegenheit, wie der Psychiater klarstellt, nicht eines positiven Gefühls. Über Elias’ Lebensende schwieg S. sich aus. So ist nicht einmal klar, wann der Junge starb. Auf einer an dessen Mutter adressierten Trauerkarte, die mit einem „Sorry“ endet, teilte er mit, dass das Kind in der Nacht vom 11. zum 12. Juli erstickte.
Der Rechtsmediziner Michael Tsokos hingegen schätzt aufgrund der im Dünndarm gefundenen Nahrung, dass dies wesentlich früher passierte. Ein Ersticken des stark fixierten Kindes hält der renommierte Gutachter jedoch für plausibel, möglicherweise geschah dies sogar unbeabsichtigt. Falls das stimmt und Elias gar nicht oder nicht so schnell sterben sollte, weil der von seiner Arbeit beurlaubte S. dessen Anwesenheit noch länger auskosten wollte, würde dies gegen die These von mehr als zwei Opfern sprechen, welche die Ermittler immer noch prüfen.
Bei seinem zweiten Opfer hegte der Täter bereits weniger Skrupel, glaubte möglicherweise, sich leicht ein weiteres beschaffen zu können. Mohamed wurde absichtlich und aus pragmatischen Gründen erdrosselt: Das Kind „quiekte“, der im Haus anwesende Vater durfte nichts merken und S. musste zur Arbeit.
„Ich will meine Strafe verbüßen und danach mein Leben in den Griff bekommen“, offenbarte S. dem Psychiater. Eine lebenslange Haftstrafe mit besonderer Schwere der Schuld wird wohl am heutigen Dienstag über den Angeklagten verhängt werden. Das bedeutet einen Freiheitsentzug von 20 bis 25 Jahren, der erst endet, wenn ein forensischer Psychiater für S. eine positive Prognose stellt. Dazu gehört die reuige Auseinandersetzung mit seinen Taten, die der Verurteilte vollständig offenbaren muss – hoffentlich tut er dies auch gegenüber den Eltern von Elias.
Im Gefängnis wird es Silvio S. sehr schwer haben. Zum einen, weil er ein Kindermörder ist. Und zum anderen, weil er ein Opfertyp ist, ein willkommener Blitzableiter für alle Frustrierten, an denen es an diesem Ort nicht mangelt.
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