Prozess nach Attacke auf Linke: Polizei sah Pick-Up-Fahrer als Opfer
Im Prozess wegen der Auto-Attacke in Henstedt-Ulzburg sagte ein Polizist am Donnerstag aus. Er nahm vor allem „unfriedliche“ Linke wahr.
Die Lage stellte sich unübersichtlich dar, als Polizeioberkommissar Z. eintraf. „Fußgänger verletzt, Rettung ist unterwegs“, habe die Information der Leitstelle gelautet, berichtete der 53-Jährige. Er war durchaus nicht der erste Beamte vor Ort: Wegen der AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus und der angemeldeten Gegendemonstration war ein Spezialeinsatzkommando im Einsatz. Als Z. die Straße erreichte, in der Melvin S. mit dem 3,5 Tonnen schweren Pick-up seiner Mutter fast 100 Meter weit über den Gehweg gefahren war, drängten sich dort zahlreiche Menschen.
Die Stimmung sei gereizt gewesen, erinnert sich Z. Sogar ein Warnschuss war abgefeuert worden, weil sich „unfriedliche Personen am Fahrzeug“ aufgehalten hätten und die wenigen Polizist*innen, die sich schützend um den Wagen stellten, einer größeren Gruppe gegenüberstanden. Z. sagte über die Gegendemonstrant*innen: „Man steckt ja Leute nicht in Schubladen, aber die hätte ich eher links eingeordnet.“
An dem Tag sprach der damalige Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen, im Bürgerhaus der Gemeinde in Schleswig-Holstein. An den Gegenprotesten seien neben friedlich Demonstrierenden auch „Personen aus dem sogenannten linken Spektrum aus der Region Hamburg dabei gewesen, die etwas ruppiger gegen Polizeikräfte vorgegangen sind“, so berichtete es Z. im schönen Beamten-Sprech auf die Nachfragen von Richterin Maja Borrmann, die mit detaillierten Fragen und im ruhigen Ton durch das Verfahren führt.
Fahrer wollte „Zecken glotzen“
Vor Ort hatte Z. für das Revier Henstedt-Ulzburg zwar „den Hut auf“, aber ein Gutteil der Beobachtungen, die er schließlich zu einer Anzeige zusammenfasste, stammt von den Mitgliedern des Sonderkommandos. Ob allerdings alle beteiligten Beamt*innen ihre Beobachtungen niedergeschrieben hätten, wusste Z. nicht, kontrolliert habe er das nicht.
Aus den zusammengetragenen Aussagen ging hervor, dass Melvin S. „in Streit mit Teilnehmern der Demo“ geraten sei. Er und seine Begleiter seien angegriffen und geschlagen worden – für Z. passte das ganz gut zu dem, was seine Kolleg*innen über das „unfriedliche Herantreten an den Wagen“ nach der Tat berichtet hatten.
Melvin S. „beabsichtigte, seinen Freunden zu helfen“, steht in der Anzeige. Das deckt sich in etwa mit dem, was der heute 22-Jährige selbst am ersten Prozesstag geschildert hatte. In die polizeiliche Anzeige ist auch eine Online-Anzeige eingeflossen, in der es um die vermeintlichen Angriffe auf S. und seine Begleiter ging. Dass Melvin S. zu diesem Zeitpunkt Mitglied der AfD war und dass er – das hat der Prozess inzwischen ergeben – mit seinen Freunden dort war, um „Zecken zu glotzen“, findet sich in der Anzeige nicht wieder.
Seinen Bericht verfasste der Polizist am Ende seiner Nachtschicht. Er sprach sich mit der Staatsanwaltschaft ab, aber nicht mit der Pressestelle der Polizei. Die hatte in einer rasch veröffentlichten Meldung davon gesprochen, dass Linke und Rechte aneinandergerieten und „dabei im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt“ wurde. Auch von „Aggressionsdelikten gegenüber Beteiligten und Polizeibeamten“ war in der Mitteilung die Rede.
Keine Flucht- oder Wiederholungsgefahr
„Man kann dem einzelnen Beamten vor Ort gar keinen Vorwurf machen“, bilanzierte Rechtsanwalt Björn Elberling, der mehrere der Verletzten bei der Nebenklage vertritt. Er sieht aber kritisch, dass die Staatsanwaltschaft anfangs nur wegen Gefährdung im Straßenverkehr ermitteln habe. Denn Polizeioberkommissar Z. hatte schon am Tattag mit Betroffenen gesprochen.
Nach deren Schilderungen ist für Elberling die angebliche Notwehr, auf die S. sich beruft, vom Tisch. Die entscheidenden Punkte – etwa, wie S. den Wagen gezielt auf die Betroffenen zugefahren habe – habe die Polizei und damit die Staatsanwalt direkt nach der Tat erfahren. „Man hätte daher durchaus überlegen können, ob es sich um ein anderes Delikt handelt“, sagte der Anwalt der taz.
Beim Verdacht auf eine versuchte Tötung, um die es vor Gericht geht, wäre auch eine Untersuchungshaft möglich gewesen. So wurde Melvin S. kurz nach der Tat von der Polizei nach Hause gefahren. Aus Sicht des Polizisten Z. habe nichts dagegen gesprochen: „Es gab keine Flucht- oder Wiederholungsgefahr.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge