Prozess im Fall Maryam H.: Zuerst mehrere Verdächtige
Nach dem Tod einer jungen Afghanin sind zwei ihrer Brüder angeklagt. Am zweiten Prozesstag haben die Ermittlerinnen ausgesagt.
Am 15. Juli 2021 gibt der Lebensgefährte von Maryam H. eine Vermisstenanzeige auf. In der Gemeinschaftsunterkunft, in der sie mit ihren Kindern lebte, war die junge Frau seit zwei Tagen nicht mehr aufgetaucht. „Es ist komisch, wenn eine Mutter ihre Kinder alleine lässt“, erinnert sich die Vermisstensachbearbeiterin, die als erste die Ermittlungen in dem Fall aufnahm. Sie ist an diesem Freitag als Zeugin im Berliner Kriminalgericht geladen.
Die beiden Angeklagten, die links von ihr in einem Glaskasten hinter ihren Verteidigern sitzen, hatte die Ermittlerin nicht in Verdacht. Es war der Lebensgefährte von Maryam H., der ihr komisch vorkam: In der ersten telefonischen Befragung sei er sehr aufgebracht gewesen, habe von der Vermissten immer in der Vergangenheitsform gesprochen. Hätte er nicht eigentlich damit rechnen müssen, dass Maryam H. wieder auftaucht?
Der Verdacht verstärkt sich, als die Beamt*innen erfahren, dass er zu Beginn der Beziehung mehrfach handgreiflich geworden sein soll. Auch bei seiner Aussage darüber, wann er die Vermisste das letzte mal gesehen haben will, gibt es Unstimmigkeiten. Der Lebensgefährte selbst verdächtigt gegenüber der Polizei immer wieder den Ex-Mann von Maryam H. – und erzählt, dass die beiden Brüder nichts von der Beziehung erfahren dürften: Sayed Yousuf H. und Seyed Mahdi H. sei die Scheidung ihrer Schwester ein Dorn im Auge, sie hätten ihn schon mehrfach bedroht. Am 19. Juli 2021 gibt die Kriminalpolizei den Fall an die Mordkommission weiter. Ihr Tatverdächtiger: Der Lebensgefährte von Maryam H.
Anfangsverdacht scheint sich zu erhärten
„Die Mordkommission hat in drei Strängen ermittelt“, berichtet deren stellvertretende Leiterin, sie ist die zweite Zeugin an diesem Verhandlungstag: „Der Lebensgefährte, der Ex-Mann und die Brüder der Vermissten“. Die Verbindungsdaten der Handys hätten den Ex-Mann der Afghanin entlastet – und erneut Anhaltspunkte dafür geliefert, dass der neue Lebensgefährte etwas mit dem Verschwinden von Maryam H. zu tun haben könnte.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli sei er mit dem Auto von Berlin nach Bad Doberan und wieder zurück gefahren. Hat er da die Leiche von Maryam H. versteckt? Die Ermittler*innen nehmen den Lebensgefährten fest und durchsuchen seine Wohnungen – ohne Ergebnis. Wenige Tage später entlassen sie ihn aus der Haft.
Derweil lässt sich die Mordkommission außerdem die Überwachungsaufnahmen vom Bahnhof Südkreuz zeigen. Sie wollen eine die Aussage von Sayed Yousuf H. überprüfen: Der hatte angeben, am 12. Juli aus Donauwörth nach Berlin gereist und einen Tag später allein zurück in die Heimat gefahren zu sein. Auf den Videoaufnahmen ist zu sehen, wie die beiden Brüder einen Koffer auf Gleis 3 tragen und anschließend in den ICE Richtung Bayern hieven.
„Da ist was Schweres transportiert worden“, das sei deutlich erkennbar gewesen, so die Ermittlerin der Mordkommission. Auch das Taxi, das die beiden zum Bahnhof gebracht haben soll, konnten die Beamt*innen identifizieren: Der Fahrer bestätigt, zwei Männer mit einem schweren Koffer bei der Adresse von Seyed Mahdi H. abgeholt und zum Südkreuz gefahren zu haben. „Danach waren wir uns sicher, dass sie die beiden Täter sind.“
Der gleiche Koffer, aber nicht derselbe
Die Polizei nimmt die beiden Männer fest und durchsucht die Wohnungen von Sayed Yousuf H. und dessen Freundin in Donauwörth und die von Seyed Mahdi H. in Berlin. In Berlin finden sie einen Frauengürtel, eine Freundin von Maryam H. wird später aussagen, dass er der Vermissten gehört. Bei Sayed Yousuf H. stoßen die Ermittler*innen auf einen Koffer.
Es ist die gleiche Bauart wie der auf den Überwachungsaufnahmen: 60 Euro, schwarzer Stoff, von Primark. Maryam H. wurde darin jedoch nicht transportiert. Sayed Yousuf H. hatte seine Freundin mehr als zwei Wochen nach dem Verschwinden seiner Schwester damit beauftragt, den Koffer zu kaufen. Vielleicht, um den Transport der Leiche zu verschleiern.
Die Freundin von Sayed Yousuf H. gibt außerdem an, in einem Baumarkt zwei Schaufeln und Handschuhe für die beiden Brüder gekauft zu haben. Sie ist es auch, die die Ermittler*innen später zu der Leiche von Maryam H. führt: In Holzkirchen, etwa 150 Kilometer entfernt von Donauwörth, liegt sie unter der Erde verscharrt, eine Plastiktüte über dem Kopf, Panzerband über Mund und Nase. Laut Obduktionsbericht wurde ihr die Kehle durchgeschnitten, zwischen den einzelnen Lagen Klebeband findet die Rechtsmedizin Rückstände eines Gummihandschuhs, daran Spuren von Seyed Mahdi H. Der Koffer ist bis heute nicht aufgetaucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee