Prozess gegen mutmaßlichen KZ-Wachmann: 101 Zeichen der Schuld
In Brandenburg muss die Justiz am Dienstag ihr Urteil über einen alten Mann fällen. Josef S. ist der Beihilfe zum Mord im KZ Sachsenhausen angeklagt.
D er dreigeschossige Turm ist quadratisch und besitzt im obersten Stockwerk auf einer Seite eine Art überdachte Veranda, die einen weiten Blick in das Lager ermöglicht, das sich hier auf topfebenem Gelände befand. Das massive Bauwerk ist in eine schnurgerade, etwa drei Meter hohe Mauer eingefasst, die sich wie ein Dreieck um den Innenraum herumzieht.
„Architektonische Machtdemonstrationen“: So nennt die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Astrid Ley die Wachtürme. Ganz besonders gilt das für die gedrungenen achteckigen mit ihren umlaufenden Balkonen, die sich an den Ecken des einstigen Lagers befinden. Und erst recht für das Eingangsgebäude, mit dem schmiedeeisernen Spruch „Arbeit macht frei“ an dem Tor, durch das die Insassen das Gelände betreten mussten.
Man kann den viereckigen Turm heute nicht mehr betreten. Das Innere ist ausgehöhlt, die Fenster sind vermauert. Und ob die lange Mauer dem Original entspricht, weiß man in der Gedenkstätte nicht sicher. Verschwunden ist an dieser Stelle auch der mehrere Meter breite, mit Stacheldraht gesicherte Streifen vor der Mauer, den zu betreten den Häftlingen streng verboten war. „Es wird ohne Aufruf scharf geschossen“, stand da auf weißen hölzernen Schildern zur Warnung. Wir befinden und uns in Oranienburg, Gedenkstätte Sachsenhausen. Das frühere Konzentrationslager.
Wie oft hat Josef S. von diesem Turm herabgeblickt, den Karabiner griffbereit? Wann war er auf einem der anderen sieben Türme eingesetzt? Hat er von der Waffe Gebrauch gemacht, um Häftlinge an einer Flucht zu hindern, gar im Inneren des Lagers Menschen drangsaliert, gequält, getötet? War er an Massenerschießungen beteiligt, und wenn ja, an welchen? Welche Außenkommandos hat Josef S. zusammen mit anderen SS-Männern bewacht, und wo überall stand seine Postenkette?
Als Schreibkraft schuldig? Parallel zu dem Verfahren in Brandenburg an der Havel läuft seit Ende September 2021 ein weiterer Prozess gegen eine KZ-Bedienstete. Angeklagt vor dem Landgericht Itzehoe ist die frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. Die 97-jährige wird der Beihilfe zum Mord in mehr als elftausend Fällen beschuldigt, begangen im KZ Stutthof. F. arbeitete dort von 1943 bis 1945 als Stenotypistin und Schreibkraft der Kommandantur. Sie habe durch ihre Tätigkeit als Zivilangestellte die Massenmorde in dem KZ unterstützt, so die Anklage.
Flucht aus dem Pflegeheim F. bestreitet ihre Tätigkeit in Stutthof nicht, ist sich aber offenbar keiner Schuld bewusst. Zu Beginn des Prozesses war die Angeklagte nicht vor Gericht erschienen, sondern hatte sich nach Hamburg abgesetzt. Nach ihrer Festnahme geriet sie kurzzeitig in Haft, derzeit lebt sie wieder in einem Pflegeheim in Quickborn bei Pinneberg.
Das KZ Stutthof In Stutthof starben während des Zweiten Weltkriegs schätzungsweise 65.000 Gefangene. Das Lager bei Danzig erlangte traurige Bekanntheit für die von der SS bewusst in Kauf genommene katastrophale Versorgung der Insassen, die vor allem an Entkräftung und Krankheiten starben. Es gab dort aber auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage für Massentötungen.
Langes Verfahren Aufgrund umfangreicher Zeugenvernehmungen, darunter von mehreren Überlebenden und einem ehemaligen Wachmann, hat das Gericht Verhandlungstage bis in den späten Herbst dieses Jahres anberaumt. Die Nebenklage hat einen Ortstermin in der heutigen Gedenkstätte Stutthof in Polen beantragt. (taz)
Das herauszufinden ist wohl nicht mehr möglich. Denn dieser Josef S., 101 Jahre alt, sagt dazu nichts in der zum Gerichtsaal umgebauten Sporthalle am Rande von Brandenburg an der Havel. Dort ist S. vor dem Landgericht Neuruppin der Beihilfe zum Mord angeklagt, begangen an mindestens 3.518 Menschen. Das Gericht tagt in der Stadt Brandenburg, damit der Angeklagte es nicht so weit von seinem Wohnort bis zu seinem Prozess hat. Josef S. Ist nur eingeschränkt verhandlungsfähig.
„Teil des Tötungsräderwerks“
Der Vorwurf lautet, dass S. in den Jahren von 1941/42 bis 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin als Wachmann in einer SS-Totenkopfkompanie Dienst geleistet hat. Er sei „Teil des Tötungsräderwerks gewesen“, wirft ihm Oberstaatsanwalt Cyrill Klement am ersten Tag der Hauptverhandlung vor. Der mit einem Rollator erschienene Angeklagte, Kopfhörer über den Ohren, doch wach und interessiert, mochte sich dazu nicht äußern.
Das war im Oktober vergangenen Jahres. Seitdem sind viele Zeugen aufgetreten, darunter Überlebende, die, über Video in den Gerichtssaal zugeschaltet, ihre Qualen im KZ geschildert haben. Der Historiker Stefan Hördler hat ein umfangreiches Gutachten abgegeben. Josef S. wird inzwischen im Rollstuhl in den Saal gefahren.
Am Dienstag soll in dem Verfahren nach einigen Verzögerungen infolge von Erkrankungen des Angeklagten das Urteil gesprochen werden. Oberstaatsanwalt Cyrill Klement fordert fünf Jahre Haft und nennt S. einen „willigen Vollstrecker“. Der Anwalt der Nebenkläger Thomas Walther verlangt eine mehrjährige Haft. Ein Strafmaß unter fünf Jahren könne seinen Mandanten – Überlebende und deren Angehörige – nur „mit großer, großer Mühe vermittelt werden“, sagt er.
Die Verteidigung hingegen plädiert auf Freispruch. an diesem Montag. Dem 101-Jährigen hätten im Prozess keine konkreten Taten der Beihilfe zum Mord an Tausenden Lagerhäftlingen nachgewiesen werden können, sagte Verteidiger Stefan Waterkamp am Montag in seinem Plädoyer.
Aber warum findet dieses Verfahren erst heute, 77 Jahre nach der mutmaßlichen Tat statt? Und wer ist dieser Josef S., der bis vor Kurzem noch ein ruhiges Leben in der deutschen Provinz führen durfte?
S. ist im litauischen Mariampol aufgewachsen, als Angehöriger der deutschen Minderheit. Man erkennt das noch, wenn der Angeklagte in einen weichen Singsang mit einem Akzent ähnlich des Ostpreußischen spricht. Er war das, was die Nationalsozialisten „Volksdeutsche“ nannten, Menschen, die als „wertvoll“ für den deutschen „Volkskörper“ galten. So kam er nach Deutschland.
Genaue Zahlen über die im KZ Sachsenhausen eingesetzten „Volksdeutschen“ „liegen uns nicht vor“, sagt Astrid Ley von der Gedenkstätte. Sicher ist, dass es sie gab. Wohl aber weiß man um die Zahl der Wachmänner, die das riesige Gelände sicherten: Es waren bis zu 3.000.
Weil viele der „Volksdeutschen“ nur geringe Kenntnisse der deutschen Sprache besaßen, produzierte die SS ein Bilderbuch für sie. Es trägt den Namen „Falsch – Richtig“ und beschreibt anhand von Zeichnungen, wie sich die Wachposten gegenüber den Gefangenen zu verhalten hatten. Auf einer Seite ist oben zu sehen, wie sich zwei SS-Männer abgewandt von den arbeitenden Häftlingen miteinander unterhalten. Das ist „falsch“. Auf der unteren Zeichnung erkennt man, wie man es „richtig“ machte: Einer der Wachposten zieht gerade seine Pistole, während der andere die drei abgebildeten fluchtbereiten Gefangenen in ihrer gestreiften Häftlingskleidung mit einem Gewehr erschießt.
Über Jahrzehnte hinweg konnten Männer wie Josef S. unbehelligt durch die Maschen der bundesdeutschen Justiz schlüpfen. Diese waren weit geknüpft, denn verurteilt konnte nur werden, wem ein individuelles Tötungsverbrechen nachgewiesen werden konnte. Doch gerade bei den SS-Wachmännern in den Konzentrationslagern war das so gut wie unmöglich: Wer unter den Überlebenden war schon in der Lage, Tausende einheitlich in Uniform gekleidete Männer, mit denen kaum ein direkter Kontakt bestand, voneinander zu unterscheiden und denjenigen zu identifizieren, der einen oder mehrere Häftlinge ermordet hatte?
Und auch in der DDR, diesem angeblich antifaschistischen Staat, war das Interesse an der Strafverfolgung dieser Männer gering ausgeprägt. S. ist nicht der Einzige, bei dem die Staatssicherheit Kenntnis über seine Vergangenheit hatte und doch nichts geschah.
Im Greisenalter vor Gericht
Erst seit gut zehn Jahren hat sich das Rechtsverständnis gewandelt. Seitdem kann auch abgeurteilt werden, wer durch seine Tätigkeit in einem Nazi-Lager wissentlich dazu beigetragen hat, die Tötungsmaschine am Laufen zu halten. Und deshalb steht Josef S., der ehemalige Schlosser aus Brandenburg in der DDR, erst jetzt und im Greisenalter vor Gericht. S. ist der älteste Angeklagte, der in einem NS-Prozess jemals vor Gericht stand. Und es ist zugleich das erste Verfahren gegen einen einfachen SS-Wachmann von Sachsenhausen überhaupt, sagt Gedenkstättenleiterin Ley.
Dort war der Tod ein allgegenwärtiger Begleiter. Gutachter Hördler hat in dem Verfahren detailliert dargelegt, welche Verhältnisse in dem KZ vorlagen. Da waren der ständige Hunger, die völlig unzureichenden hygienischen Verhältnisse, die brutalen Strafen, die extreme Überbelegung, die individuellen Morde. Hördler hat beschrieben, bei welchen Aktion dort hunderte, ja tausende Menschen erschossen wurden, so geschehen etwa Ende 1941 an sowjetischen Kriegsgefangenen.
Dazu hatte die SS dort eine Mordmaschine mit dem Namen „Genickschussanlage“ installiert, wo die Gefangenen von in weißen Ärztekitteln getarnten Männern in Empfang genommen wurden, um vorgeblich ihre Körpergröße zu messen. Doch hinter einem Schlitz in der Wand lauerten andere SS-Männer, die den ahnungslosen Menschen in den Hinterkopf schossen. Im KZ Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende kamen ums Leben.
Die SS-Wachtruppe, der Josef S. laut Anklage angehörte, „hat an allen großen Erschießungskommandos in Sachsenhausen mitgewirkt“, sagt Astrid Ley. In der Schlussphase kurz vor Kriegsende, als die SS körperlich geschwächte Gefangene loswerden wollte, sei die Wachtruppe aktiv an der Ermordung der „Marschunfähigen“ beteiligt gewesen.
Und, ja, sagt Ley, die Wachmänner hätten sich ihrer mörderischen Tätigkeit entziehen können, wenn sie es denn gewollt hätten – allerdings mit dem Risiko eines Fronteinsatzes. „Man konnte sagen, das möchte ich nicht machen“, sagt sie über die Beteiligung an Erschießungen. Es gebe in Sachsenhausen dokumentierte Fälle, in denen sich solche Männer versetzen ließen. Einer von ihnen war danach bei der Wachhunde-Ausbildung eingesetzt. Von Josef S. Ist kein Versetzungsgesuch bekannt.
Udo Lechtermann, Richter
Die Version des Angeklagten
Der Angeklagte hat die Angaben des Gutachters in seinem Prozess nicht bestritten. Er hat überhaupt nichts dazu gesagt. Denn nach seiner Erzählung hat er mit den Taten im KZ nichts zu tun. Er sei nämlich niemals dort gewesen.
Es ist Anfang Dezember, als sich Josef S., wie von seinem Verteidiger angekündigt, endlich dazu entschließt, persönliche Angaben zu seinem Leben zu machen. Er berichtet von einem Umsiedlungslager nach seiner Ankunft in Deutschland und von der Arbeit in einer Fabrik. Später will er bei zwei verschiedenen Bauernhöfen als Arbeiter tätig gewesen sein, zuletzt in Pasewalk, bevor er kurz vor Kriegsende zum Fronteinsatz befohlen wurde. Aber dort in Kolberg habe er als Zivilarbeiter nur Schützengräben ausgehoben und noch nicht einmal eine Waffe erhalten.
Dann beginnt S. sich zu verheddern, verwechselt seine Zeit als Soldat bei der litauischen Armee vor seiner Umsiedlung mit dem angeblichen Dienst bei Kolberg bei Kriegsende.
Dazu bemerkte der in dem Verfahren stets souverän auftretende Richter Udo Lechtermann: „Ich habe ganz erhebliche Schwierigkeiten, Ihnen zu glauben, was Sie hier erzählen.“
Denn dem Gericht liegen umfangreiche Indizien für Josef S.’ Tätigkeit als Wachmann in Sachsenhausen vor. Dazu zählen Dokumente mit den Listen von unterschiedlichen SS-Kompanien, in denen sein Name, versehen mit seinem Geburtsdatum und -Ort, genannt wird. Zuletzt, ab 1944, war S. demnach im Rang eines Rottenführers eingesetzt, dem höchsten Mannschaftsgrad in der SS, wurde also sogar befördert. Es gibt Schreiben der Einwandererzentralstelle. In einem Schreiben des Vaters des Angeklagten heißt es, der Sohn sei bei der SS in Oranienburg tätig.
Richter Lechtermann verweist auch auf einen offenbar vom Angeklagten handschriftlich verfassten Lebenslauf, in dem dieser im Jahr 1985 auf Bitten der Rentenversicherung angibt, vom September 1940 bis zum Mai 1945 „Wehr- und Kriegsdienst“ geleistet zu haben – also keineswegs auf Bauernhöfen gearbeitet zu haben. Und schließlich existiert ein Foto, bei dem eine Gutachterin 101 Merkmale feststellte, die auf eine Übereinstimmung mit dem Angeklagten hinweisen.
Aber Josef S. bleibt bei seiner Darstellung und reiht sich damit in die lange Reihe der NS-Täter ein, die nach dem Krieg bis zum Schluss ihrer Prozesse all ihre Verantwortlichkeiten geleugnet haben. In seinem Strafantrag kommt der Staatsanwalt Mitte Mai darauf zurück: „Sie haben einfach weggeguckt. Sie haben es verdrängt“, sagt Klement. Der Angeklagte habe eine „Wahr-Lügen-Entwicklung“ hinter sich. Es bestehe „kein Zweifel“ daran, dass Josef S. SS-Wachmann in Sachsenhausen gewesen sei: „Das alles ist keine Theorie, das sind Fakten.“
Bei dem in der Sporthalle zu Brandenburg laufenden Prozess handelt es sich um ein Strafverfahren. Doch es geht, das machen die als Zeugen auftretenden Überlebenden und der Gutachter ebenso deutlich wie ungewollt die Einlassungen des Angeklagten zu seiner angeblichen Unschuld, auch um die historische Wahrheit, um Schuld und Verantwortung. Indem die bundesdeutsche Justiz einen Fall von mutmaßlicher Beihilfe zum Massenmord aufzuklären versucht, ist sie zwangsläufig auch damit betraut, ein furchtbares Kapitel deutscher Geschichte zu untersuchen und zu bewerten. Und das erscheint auch heute noch bitter notwendig, wie das Verfahren selbst gezeigt hat.
Am allerersten Prozesstag im Oktober vergangenen Jahres, als Oberstaatsanwalt Klement seine Anklage vorträgt, steht nicht nur der Angeklagte im Mittelpunkt. Nahe an einer der Wände der Sporthalle, etwa 30 Meter von Josef S. entfernt, sitzt ein schmaler Mann in Anzug und Krawatte in einem Rollstuhl. Die Reporter umringen ihn kurz vor dem Verfahrensbeginn, gehen in die Knie, um seine Stimme zu hören.
Leon Schwarzbaum, der posthume Zeuge
Es ist Leon Schwarzbaum. Er ist nur drei Monate jünger als Josef S., geboren 1921 in Hamburg. Als Jude wurde er 1943 nach Auschwitz deportiert. Schwarzbaum überlebte dort als Zwangsarbeiter bei Siemens, seine Eltern wurden ermordet. Er überlebte auch den Todesmarsch nach Gleiwitz, kam nach Haselhorst, einem Außenlager von Sachsenhausen, wurde nach Sachsenhausen getrieben und schließlich, die Alliierten näherten sich dem Lager, auf einem erneuten Todesmarsch nach Nordwesten. Dann befreiten ihn die einrückenden Amerikaner.
Leon Schwarzbaum, posthumer Zeuge
Schwarzbaum hat sich später in Berlin niedergelassen und wurde Antiquitätenhändler. Aber die Nazi-Verfolgung hat ihn niemals losgelassen. Er hat in Schulen gesprochen und ist 2016 im Prozess gegen Reinhold Hanning, SS-Wachmann in Auschwitz, aufgetreten. Eine Nebenklage im Verfahren gegen Josef S. war nicht möglich, weil dieser kurz vor Schwarzbaums Deportation nach Sachsenhausen zur Front abkommandiert worden war. Aber Schwarzbaum will zu einem späteren Zeitpunkt als Zeuge auftreten. Und jetzt ist er hier.
Am Mittag, der Angeklagte hat über seinen Verteidiger ausrichten lassen, dass er sich vorläufig nicht äußern werde, ist Leon Schwarzbaum enttäuscht: „Ich habe mir etwas anderes vorgestellt“, sagt er. „Da war kein Wort der Entschuldigung, kein Wort der Erklärung.“
Leon Schwarzbaums Aussage vor Gericht ist da zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehen. Doch dazu kommt es nicht mehr. Er stirbt, 101 Jahre alt, am 13. März 2022, ohne eine Antwort auf seine Frage nach dem Warum vom Angeklagten erhalten zu haben.
Fünf Tage später kommt es in der Sporthalle am Rande von Brandenburg an der Havel zu einer außergewöhnlichen Aussage. Richter Udo Lechtermann hat zugelassen, dass Schwarzbaums Rechtsanwalt Thomas Walther dessen Erklärung posthum verlesen darf.
Und Leon Schwarzbaum beginnt durch Walther zu sprechen. Er berichtet von einer Leidenszeit im Nationalsozialismus, von den Lagern, den Ermordeten, während Josef S. zur gleichen Zeit bei der SS in Sachsenhausen gewesen sei.
Und Schwarzbaum sagt: „Herr Josef S., ich appelliere an Sie – hier in Brandenburg Ihre Leugnungen und Verdrängungen aufzugeben, noch ist der Prozess nicht zu Ende. Ihr Kopf wird voll sein mit Bildern und Erlebnissen aus der Zeit. Ich bin mir ganz sicher. Wir beide sind uns in Sachsenhausen nicht begegnet, wir haben uns nur wenige Wochen verpasst. Wir sind beide 101 Jahre – und wir stehen bald vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern, uns die historische Wahrheit zu erzählen. Sprechen Sie hier an diesem Ort über das, was Sie erlebt haben – so wie ich es für meine Seite tue.“
Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Leon Schwarzbaums Wunsch in Erfüllung gehen wird. Aber noch steht das Schlusswort des Angeklagten aus.
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