Protokoll zu Corona im Pflegeheim: „Ein Gefühl der Traurigkeit“
Der Heimbewohner Roderich Gräff leidet darunter, dass er wegen des Corona-Virus keinen Besuch bekommen darf. Telefonieren sei kein Ersatz.
Die Auswirkungen des Besuchsverbots merke ich sehr stark. Ich bekam ein Gefühl der Traurigkeit und verstand es erst gar nicht. Und dann merkte ich, dass es damit zusammenhängt, dass die Besucher nicht mehr kommen. Ich habe dadurch erst gemerkt, wie wichtig sie für mich sind. Vorher bekam ich vielleicht drei, vier Besuche von verschiedenen Leuten in der Woche. Jetzt sind es null. Stattdessen Kontakt per Telefon zu haben, nützt nichts, für mich ist das persönliche Gespräch enorm wichtig.
Die Besucher sind ein früherer Nachbar und Freund, ein Professor im Ruhestand und ein Schüler. Der frühere Nachbar ist Heilpraktiker und wir sprechen viel über seine Klienten und sein tägliches Leben. Mit dem Professor geht es eher um Gott und die Welt, etwa um Politik oder unsere Einstellung zur Religion. Und es gibt eine alte Freundin, die kam, um mir aus einem Buch vorzulesen. Das war eine sehr angenehme Atmosphäre und wir sprachen über das Vorgelesene. Sie meinte, dass sie es per Telefon machen will, aber ich sagte, das hat keinen Zweck.
Die Pfleger machen ihre Arbeit wunderbar, sie helfen uns beim Aufstehen, Waschen, sie bringen das Essen, alles sehr angenehm, aber sie dürfen sich nicht um private Dinge kümmern. Das ist alt – sie durften sich auch vor dem Corona-Virus nicht über private Dinge mit uns unterhalten, sie sollen keine Zeit verschwenden. Das war vorher auch nicht so schlimm, ich hatte ja meine persönlichen Besucher. Jetzt kann ich kaum etwas tun, um das aufzufangen.
Ich hatte einen Schüler, der ein-, zweimal pro Woche kam, um mir bei meiner physikalischen Forschungsarbeit und allem, was ich mit einer Hand allein nicht machen kann – ich bin ja halbseitig gelähmt – zu helfen. Der darf jetzt auch nicht mehr kommen und das ist sehr nachteilig für mich. Er half mir mit den Versuchen, mit dem Computer, mit dem Schriftverkehr und das ist jetzt alles tot. Die Heimleitung hat inzwischen zugegeben, dass ich die Versuche hier im Zimmer machen darf, vorher hatten sie gesagt, das sei hier doch keine Universität, sondern eine Station für alte Menschen.
92, lebt, seitdem er halbseitig gelähmt ist, in einem Pflegeheim im Schwarzwald. Er ist Maschinenbauingenieur und forscht seit Langem zu Möglichkeiten, die Schwerkraft zur Energiegewinnung zu nutzen. Er ist der Onkel der Protokollantin.
Ein geschlossenes Leben
Ich traf kürzlich mittags einen Pfleger und fragte ihn, wie geht’s, das übliche Hin und Her, dann sagte ich: „Mich beschleicht ein Gefühl der Traurigkeit.“ Am Abend trafen wir uns wieder und ich fragte: „Wie war Ihr Tag?“ „Schrecklich“, sagt er. Ich sagte: „Wieso?“ „Heute Morgen haben Sie ja gesagt, dass Sie solch ein Gefühl von Traurigkeit haben.“ Das fand ich höchst interessant, dass er das als etwas Schreckliches empfand.
Ich kann nicht wirklich sagen, wie die anderen Bewohner auf das Besuchsverbot reagieren. Ich vermute, dass es sie weniger trifft. Die meisten haben ein sehr geschlossenes Leben, sie sind nicht so abhängig von Besuchern.
Ich kann mich jetzt nicht im Internet über die Pandemie informieren, für den Computer brauche ich den Schüler. Ich habe einen Freund aus Studienzeiten, den ich morgens anrufe und frage: „Wie geht es dir und was gibt es Neues in der Welt?“. Ich fühle mich durch das Corona-Virus nicht bedroht.
Wenn ich gefragt würde, dann würde ich sagen, dass die Leute, die wollen, zu mir kommen sollen. Das sind verantwortungsbewusste Leute, wenn sie glauben, sie hätten es, würden sie von sich aus nicht kommen oder sie würden fragen: Willst du, dass wir dich besuchen? Dann kann ich selber entscheiden, wie groß oder klein das Risiko ist.
Gespräche ohne Tiefe
Ich denke nicht viel darüber nach, wie lange die Epidemie dauern wird. Ich denke, dass es eher schlimmer werden wird. Für mich bedeutet es viel, wenn meine Besucher wieder kommen könnten und wenn mein Helfer wieder kommen könnte.
Die Leute rufen mich etwas häufiger an. Aber es lohnt sich nicht, sich am Telefon über ernste Dinge auszutauschen. Man kann die Reaktion des anderen nicht wahrnehmen, nicht den Gesichtsausdruck und die Gefühle. Ich habe gedacht, wenn die ersten Menschen auf dem Mond leben, werden die anderen sie anrufen und wollen wissen, wie es auf dem Mond ist. Und die Menschen auf dem Mond werden dann vermutlich ein Gefühl der Traurigkeit haben, so wie ich es habe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste