Protestwelle in China: Beeindruckender Mut
Erstmals seit sehr langer Zeit wagen Chinesen zu protestieren. Die Null-Covid-Politik dürfte fallen, doch Präsident Xis Macht ist nicht gefährdet.
S elten haben die Chinesen so viel Zivilcourage zur Schau gestellt wie dieses Wochenende: In Ürümqi sind die Massen auf die Straßen gezogen, in Schanghai posaunte die Jugend ihre Wut gegenüber der Regierung hinaus, und in der Hauptstadt Peking zeigten die Studenten der renommierten Tsinghua-Universität ihre Solidarität.
Die unzähligen Proteste während der letzten zwei Tage sind die größten und mutigsten, welche die Volksrepublik China seit den 1990er Jahren gesehen hat. Sie zeigen ganz offen, wie viel Frust sich in den letzten Monaten aufgestaut hat. Denn der Unmut kommt nicht von ungefähr, sondern hat sich infolge unzähliger Tragödien angebahnt, die allesamt durch die drakonischen Lockdowns provoziert wurden.
Manche Chinesen, die durch die Ausgangssperren ihre ökonomische Lebensgrundlage verloren haben, fühlen sich mit dem Rücken zur Wand: Sie haben nichts mehr zu verlieren. Viele andere hingegen können aus moralischen Gründen nicht mehr schweigen. Sie erheben ihre Stimme trotz massiver Repression. Sie alle eint, dass sie ein Ende der Null-Covid-Politik fordern, wofür sie jahrelange Haftstrafen riskieren.
Das Volk hat sich also gegen jene Politik positioniert, die ganz eng mit der Person Xi Jinping verknüpft ist. Niemand hat die Coronamaßnahmen als derart alternativlos und erfolgreich angepriesen wie der 69-jährige Parteichef. Doch nach diesem Wochenende wird Xi Jinpings Null-Covid-Strategie wohl das Zeitliche segnen.
Selbiges gilt jedoch nicht für seine Herrschaft. Wer etwas anderes behauptet, unterschätzt die perfide Effizienz der chinesischen Zensur und die einschüchternde Wirkung des heimischen Sicherheitsapparats. Zudem gibt es seit Jahren bereits keine kritischen Medien oder NGOs im Land mehr – jene Institutionen, die notwendig sind, damit sich lokale Demonstrationsbewegungen gemeinsam koordinieren können.
Auch richtet sich der Frust vieler Chinesen vor allem gegen die Coronamaßnahmen, nicht jedoch gegen die Zentralregierung in Peking. Sie sehen die exzessiven Lockdowns als Machtmissbrauch lokaler Nachbarschaftskomitees, weniger als notwendigen Auswuchs eines totalitären Systems.
Xi Jinping steht nun vor einer folgenschweren Entscheidung: Entweder folgt er der Stimme seines Volkes und lockert nicht nur die Lockdowns, sondern auch seine zunehmend repressive Politik. Oder aber er tut, was er die letzten Jahre perfektioniert hat: sämtliche Protestierende mit der brutalen Hand des Staates mundtot machen. Doch wer weiß, ob die sich nicht erneut erheben werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe