Protestieren in Coronazeiten: Karlsruhe lehnt Demoverbot ab
Erstmalig in Coronazeiten hat das Bundesverfassungsgericht ein Versammlungsverbot beanstandet. Die Richter fordern die Prüfung von Einzelfällen.
Konkret ging es um mehrere Kundgebungen in Gießen, zu denen die Projektwerkstatt Saasen aufgerufen hatte. Unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ forderte die Projektwerkstatt zum Beispiel die Sperrung der Straßen vom Autoverkehr, damit Radfahrer und Fußgänger genug Abstand einhalten können. Auch die Teilnehmer der Demo sollten jeweils 10 Meter Abstand nach vorn und hinten beachten sowie 6 Meter zur Seite.
Die Stadt Gießen verbot die Demonstrationen dennoch unter Verweis auf die hessische Coronaverordnung. Öffentliche Verhaltensweisen, die geeignet seien, das Abstandsgebot von 1,5 Metern zu gefährden, seien generell untersagt. Erfahrungsgemäß würden bei Versammlungen Mindestabstände nicht eingehalten. Eilanträge gegen das Verbot hatten bei den hessischen Verwaltungsgerichten keinen Erfolg.
Dann hatte jedoch das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung zugunsten der Projektwerkstatt erlassen. Die Verfassungsrichter monierten, dass die Stadt von einem generellen Versammlungsverbot ausging, obwohl in der hessischen Coronaverordnung gar keine derartige Klausel enthalten war. Aber auch unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Landesverordnung müsse über Versammlungsverbote immer „unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden“ werden (Az.: 1 BvR 828/20).
Demonstranten sollen Mundschutz tragen
Die Stadt Gießen, die über das Verbot erneut entscheiden musste, hat die Kundgebung inzwischen gestattet. Die Versammlung sei jetzt unter Auflagen zugelassen, sagte Bürgermeister Peter Neidel (CDU). Demnach hat die Stadt die Kundgebung auf eine Stunde und die Teilnehmerzahl auf maximal 15 begrenzt. Alle müssten Mundschutz tragen und mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander halten.
Mit der aktuellen Entscheidung setzte nicht nur das Verfassungsgericht, sondern auch Richter Stephan Harbarth ein Zeichen. Der jetzige Vizepräsident und designierte Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist erst seit einigen Wochen federführend für die Versammlungsfreiheit zuständig. Er hatte die Aufgabe vom chronisch überlasteten Richter Johannes Masing übernommen.
Schon vor der Karlsruher Intervention hatten zuletzt auch andere Gerichte Demonstrationen zugelassen, die eigentlich wegen der Corona-Infektionsgefahr verboten waren. So hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kurz vor Ostern die von einem Wirtschaftsanwalt angemeldete kleine Kundgebung gegen Versammlungsverbote zugelassen. Argument: Gegen coronabedingte Freiheitsbeschränkungen könne nur jetzt demonstriert werden.
Bei der Bund-Länder-Telefonkonferenz am Mittwochnachmittag war zwar über Lockerungen aller Art diskutiert worden. Im Dialog mit den Kirchen will man zum Beispiel einen „möglichst einvernehmlichen Weg“ finden, wie mit den derzeit verbotenen Gottesdienste weiter umgegangen werden soll. Von der Versammlungsfreiheit war aber nicht die Rede. Bayerns Ministerspräsident Markus Söder (CSU) sagte, die Regierungen auf Bundes- und Landesebene hätten „genau zwei Herausforderungen im Kopf: die Gesundheit und die Wirtschaft“. An die Grundrechte der Bürger dachte er offensichtlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour