Proteste in Ungarn: Marsch gegen Orbán
Rund 80.000 Menschen demonstrieren in Budapest gegen die Bildungspolitik der Regierung. Dabei geht es auch um die schlechte Bezahlung von Lehrkräften
Von den 38 OECD-Ländern zahlt Ungarn die niedrigsten Gehälter für Lehrpersonal. Kaum 600 Euro monatlich bekommt eine Lehrerin für eine Arbeit, bei der sie durch strikte und ideologisierte Lehrpläne so eingeengt ist, dass sie keine Eigeninitiative entwickeln kann.
Auch die Schulen seien notorisch unterfinanziert. „Es gibt für nichts Geld“, klagte eine demonstrierende Deutschlehrerin gegenüber einem Korrespondenten vom österreichischen Rundfunk (ORF): „Die Schulen sind total abgewirtschaftet, die Kinder müssen sogar WC-Papier, Kreide und Schwamm mitbringen.“
Regierungschef Viktor Orbán gibt zwar zu, dass die Löhne zu gering seien, macht aber die EU dafür verantwortlich. Die hat wegen ausufernder Korruption mehr als sieben Milliarden Euro an Geldern für Ungarn eingefroren. Die sind allerdings nicht für den Bildungssektor bestimmt. Eine für das kommende Jahr in Aussicht gestellte Lohnerhöhung von 25 Prozent kann die aufgebrachte Lehrerschaft angesichts einer Jahresinflation um die 20 Prozent nicht besänftigen.
Streikrecht eingeschränkt
Weil die Bildungsagenden im Innenministerium angesiedelt sind, forderten die Demonstrant*innen auch die Schaffung eines Unterrichtsministeriums. Außerdem richtete sich die Demonstration gegen die im Februar verhängte Einschränkung des Streikrechts für Lehrende. Es war schon die zweite Großdemonstration im Oktober, nachdem fünf Lehrer im September wegen zivilen Ungehorsams entlassen worden waren. Und es war die größte Protestveranstaltung seit dem Aufstand gegen eine geplante Internetsteuer im Jahr 2014.
Orbán zog es vor, den Nationalfeiertag fernab der aufgewühlten Hauptstadt zu begehen. In einer geschlossenen Veranstaltung in der westungarischen Stadt Zalaegerszeg teilte er wieder heftig gegen die EU aus: „Lassen wir uns nicht aus der Ruhe bringen von jenen, die aus dem Schatten auf Ungarn schießen, irgendwo von den Hochsitzen in Brüssel.“ Er prophezeite der EU ein Schicksal wie dem Sowjetblock vor drei Jahrzehnten, nämlich den Zerfall.
Ungarn hat zwar die bisherigen Sanktionen gegen Russland nolens volens mitgetragen, feuert jetzt aber aus vollen Rohren gegen die damit verbundene Politik. Kein Land in der EU ist stärker von russischem Gas und Erdöl abhängig als Ungarn, dessen Außenminister Péter Szijjartó auf Bettelmission in Moskau zusätzliche Lieferungen ausgehandelt hat. Landauf, landab verkünden schrille Plakate: „Die Sanktionen Brüssels ruinieren uns.“
Um den EU-Kollegen zu beweisen, dass die Bevölkerung sein geplantes Ausscheren aus der Front gegen Moskau unterstütze, hat Orbán im Rahmen einer „Konsultation“ Fragebögen an alle Haushalte schicken lassen. Da laden Suggestivfragen wie „Sind Sie einverstanden mit den die Lebensmittelpreise erhöhenden Sanktionen?“ zur Ablehnung der EU-Politik ein.
Wahre Feinde
Seit sich Orbán wirtschafts-, innen- und außenpolitisch zunehmend unter Druck sieht, versucht er die wahren Feinde Ungarns in der kritischen Zivilgesellschaft zu finden. Jüngstes Opfer seiner Kampagne ist die Organisation Action for Democracy, der er vorwirft, durch Finanzierung der Oppositionsallianz illegal in den Wahlprozess eingegriffen zu haben.
Die angesprochene NGO wehrt sich mit einer schriftlichen Erklärung. Man habe nur völlig legale Informationsarbeit geleistet, „mit besonderem Schwerpunkt auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und dem Bekenntnis zur Euro-Atlantischen Partnerschaft“. Im Vorstand von Action for Democracy sitzen so renommierte Experten wie der britische Historiker Timothy Garton-Ash und aus den USA die Journalistin Anne Applebaum, General Wesley K. Clark und der Politologe Francis Fukuyama.
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