Proteste in Nigeria: Ein ganzes Land in Aufruhr

Was als Protest gegen Polizeigewalt in Nigeria begann, entwickelt sich zu einem landesweiten zivilen Aufstand. Jetzt schickt die Regierung die Armee.

Ein Mann mit Augenbinde reckt seine Faust in die Höhe.

Mit #EndSars forderten Demonstranten die Auflösung der Polizei-Sondereinheit – doch sie wollen mehr Foto: Temilade Adelaja/reuters

COTONOU taz | Die Berichte werden jeden Tag besorgniserregender. Bewaffnete Schläger sollen im Zentrum von Nigerias Hauptstadt Abuja friedliche Demonstrant*innen angegriffen haben, Dutzende wurden verletzt. Nach Informationen der Onlinezeitung Premium Times setzte die Polizei zudem Tränengas gegen die Protestierenden ein. Später am Montag heißt es, dass an strategischen Orten innerhalb der Hauptstadt Soldaten stationiert worden sind.

Aus Kano, der Wirtschaftsmetropole des Nordens von Nigeria, kommen ebenfalls am Montag Bilder von brennenden Reifen und friedlichen Protestierenden, die die Kofar Mata Road, eine der Hauptverkehrsstraßen, blockieren.

Nach Informationen von Amnesty International soll dort die Wut besonders groß sein, ist doch am Morgen ein 17-Jähriger in Polizeigewahrsam gestorben. Er wurde zu Tode gefoltert, twittert die Menschenrechtsorganisation. Er war wohl nicht der einzige. Seit Beginn der Proteste vor knapp zwei Wochen sollen mindestens 15 Menschen ums Leben gekommen sein. Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt. Es gab viele Verhaftungen.

Die Proteste, die Nigeria erschüttern, richten sich eigentlich gegen die Sondereinheit für Raubüberfälle (Sars) innerhalb der nigerianischen Polizei. Ihre brutale Vorgehensweise – vorgeworfen werden den Beamt*innen unter anderem Folter, Verschleppung, Erpressung und illegale Verhaftungen – steht seit Jahren in der Kritik. Vor knapp zwei Wochen sind die Proteste aus den sozialen Netzwerken unter #EndSARS auf die Straßen gezogen. Es sind vor allem junge Menschen, die sich die Gewalt des Staates nicht mehr bieten lassen. Sie sind gut vernetzt.

In Lagos kocht die Wut hoch

Als Nigerias Regierung unter Präsident Muhammadu Buhari vor einer Woche das Ende von Sars bekanntgab und stattdessen die Gründung von Swat (Team für spezielle Waffen und Taktiken) ankündigte, konnte sie die Demonstrant*innen nicht besänftigten, im Gegenteil: In immer mehr Städten gehen die Leute auf die Straße, und sie begnügen sich nicht mit Demonstrationen.

Am Montagnachmittag zeigen Videos, wie in der 20-Millionen-Einwohner zählenden Metropole Lagos, die größte Stadt Afrikas, zahlreiche Stadtautobahnen durch Straßenblockaden lahmgelegt sind. In einem anderen ist ein wütender und symbolischer Trauerzug im Bundesstaat Edo zu sehen, auf dem einfachen Holzsarg steht „RIP Buhari“, an den Präsidenten gerichtet. In Edo sollen auch Polizeiwachen angegriffen worden sein, aber auf den Wahrheitsgehalt lassen sich längst nicht alle Tweets und Bilder prüfen.

Dass die Wut hochkocht, ist offensichtlich und es liegt an den Versprechen und Beschwichtigungen, die die Regierung in den vergangenen Jahren immer wieder geäußert hat, wenn es Ärger auf den Straßen gab, ohne tatsächlich etwas zu ändern. In der Kritik steht auch die mangelnde Aufarbeitung von Straftaten, die von Polizei und Militär begangen worden sind.

Unterstützung erhalten die Demonstrant*innen von Menschenrechtsorganisationen, die Daten zu der Sondereinheit Sars veröffentlicht haben. In den vergangenen Tagen haben zudem immer mehr Kirchenvertreter – in Nigeria mächtige Institutionen – die Polizeigewalt kritisiert. Aufgesprungen ist auch die politische Opposition, etwa Atiku Abubakar, unterlegener Präsidentschaftskandidat im vergangenen Jahr. Er forderte am Wochenende dazu auf, jenen zu gedenken, die vom „ungerechten System ermordet worden sind“.

Seltener Massenprotest in Nigeria

Der Protest eint Nigeria wie selten, da alle Gruppen und Gesellschaftsschichten von staatlicher Gewalt und Willkür betroffen sind. Unfaire Behandlung erleben an Checkpoints nicht nur Tagelöhner*innen oder Fahrer, sondern auch die Mittelschicht.

Ansonsten sind Massenproteste in Nigeria eher selten. Zwar ist die Unzufriedenheit mit der Zentral- und Regionalregierung sowie der persönlichen wirtschaftlichen Situation oft groß. Doch Nigeria, wo rund 200 Millionen Menschen leben, ist zersplittert. Die Bewohner*innen sind Christen oder Muslime; Haussa, Igbo oder Yoruba; sie stammen aus Ogun, Plateau oder Gombe. Eine gemeinsame nationale Identität fehlt ihnen oft.

Erfolgreich war ein Generalstreik in Nigeria zuletzt im Januar 2012, als der Benzinpreis zum Jahreswechsel von 65 (rund 34 Euro-Cent) auf 141 Naira stieg. Nach zwei Wochen des Protests wurde er auf 97 Naira festgelegt. Zu Mahnwachen in verschiedenen Städten kam es auch 2014, nachdem die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Bundesstaat Borno 276 Schülerinnen aus dem Dorf Chibok entführt hatte.

2018 gelang auch der Jugendbewegung #NotTooYoungToRun ein bundesweiter Erfolg: Mit Kundgebungen setzte sie die Senkung des passiven Wahlalters durch und erhielt auch international Aufmerksamkeit. Jetzt gibt es eine neue spektakuläre nigerianische Protestbewegung, und wie sie sich entwickelt, ist offen.

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