Proteste in Katalonien: Eine Demo jagt die andere
Sowohl Befürworter als auch Gegner der Unabhängigkeit gehen in Barcelona auf die Straße. Es kommt erneut zu gewalttätigen Zusammenstößen.
Madrid taz | Spanische Fahnen in Barcelona – so weit das Auge reichte. Am Sonntagmittag hatte die Katalanische Zivilgesellschaft (SCC) unter dem Motto „Für die Eintracht, für Katalonien. Schluss jetzt!“ zu einer Kundgebung aufgerufen. Die Mobilisierung wurde von der in Madrid regierenden sozialistischen PSOE über die konservative Partido Popular (PP), die rechtsliberale Ciudadanos (Cs) bis hin zu ultrarechten Vox unterstützt.
Unter den Teilnehmern befanden sich Josep Borrell, der in der neuen EU-Kommission das Außenresort innehat, der PP-Chef Pablo Casado und sein Kollege bei Cs, Albert Rivera, sowie regionale Vertreter von Vox. Die Veranstalter hatten in ganz Spanien Busse nach Barcelona gechartert. Laut Stadtpolizei kamen gerade einmal 80.000 Menschen zusammen. Vor zwei Jahren konnte die SCC noch weit über eine halbe Million aktivieren.
„Wir werden Zeugen von Gewalt, wie wir sie seit der Industriekrise in den 1980ern nicht mehr gesehen haben“, erklärte der Sozialist Borrell, selbst Katalane, warum er gekommen war.
Casado (PP) und Rivera (Cs) nutzten die Zwischenfälle der beiden vergangenen Wochen, um die Regierung in Madrid aufzufordern, Katalonien einmal mehr unter Zwangsverwaltung zu stellen und in einem ersten Schritt der Regierung Torra mit Hilfe des nationalen Sicherheitsgesetzes die Hoheit über die katalanische Polizei zu entziehen.
Rufe nach Freiheit
Bereits am Samstag abend waren Hunderttausende dem Ruf von rund 160 Organisationen, Parteien und Gewerkschaften gefolgt und in Barcelona auf die Straße gegangen. Unter dem Motto „Freiheit“ protestierten Befürworter der Unabhängigkeit gegen die Verurteilung von neun katalanischen Politikern und Aktivisten zu 9 bis 13 Jahren Haft in Zusammenhang mit dem 2017 abgehaltenen Unabhängigkeitsreferendum.
In der ersten Reihe liefen die Angehörigen der Verurteilten. Etwas weiter hinten reihten sich katalanische Politiker ein, darunter der katalanische Regierungschef Quim Torra. Die Stadtpolizei sprach von 350.000 Teilnehmern. Die Veranstalter zweifelten dies an, denn die Polizei habe auf der gleichen Strecke vor einem Jahr noch das Doppelte gezählt.
„Dieser politische Konflikt wird sich weder mit Richtern noch mit Repression oder Polizeigewalt lösen lassen“, erklärte Marcel Mauri, Vize-Vorsitzender der Kulturvereinigung Òmnium. Òmnium und die Bürgerbewegung Katalanische Nationalversammlung (ANC) sind die beiden wichtigsten Organisationen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Ihre beiden Vorsitzenden befinden sich unter den neun Inhaftierten.
„Wir werden es wieder tun“, beteuerte der katalanische Regierungschef Torra, dem Urteil zum Trotz. Torra forderte Madrid erneut einen Dialog. Sein Ziel ist eine Abstimmung über die Unabhängigkeit, wie in Schottland. „Es gibt kein Selbstbestimmungsrecht“, keine Demokratie erkenne dies an, konterte die stellvertretende Regierungschefin aus Madrid, Carmen Calvo Torra.
Gummibälle statt Gummigeschosse
Nach der Großkundgebung zogen über zehntausend Menschen vor das Kommissariat der spanischen Nationalpolizei in Barcelona und warfen, als Symbol für die in den letzten Tagen immer wieder eingesetzten Gummigeschosse, Gummibälle über die Polizeiabsperrung.
Es kam zu schweren Straßenschlachten. Am Ende waren, so die katalanische Innenbehörde, 44 Verletzte zu beklagen, 25 davon Polizeibeamte. Seit der Urteilsverkündung vor knapp zwei Wochen forderten die gewalttätigen Auseinandersetzungen 600 Verletzte.
Ebenfalls am Samstag fand fast unbemerkt von Presse und Öffentlichkeit eine weitere Kundgebung vor dem Sitz der katalanischen Regierung statt. „Parlem“ – „Sprechen wir!“ – lautete das Motto der in Weiß gekleideten Teilnehmer. Kamen vor zwei Jahren unter dem gleichen Motto noch mehrere Tausend zusammen, waren es jetzt gerade noch rund 100.
Leser*innenkommentare
grenzgängerin
Für ein freies unabhängiges Katalonien!
Und Freiheit für die politischen Gefangenen!
nischu
Die Rechtsradikalen in Katalonien nutzen ihre letzten Chancen, um unter den Katalanen Stimmen für die Wahlen am 10. November zu fischen. Auch Sánchez war vor zwei Tagen in einer Kleinstadt präsent, deren Bürgermeister, eine strammer Rechter eingeladen hatte. Die Wahlprognosen zeigen Sánchez als klaren Sieger. aber sie haben sicher die 5 Millionen katalanischen Wähler unterschätzt. Bei dem "illegalem Referendum" 2017 gingen nur 43% Wahlberechtigte zur Wahl. Trotz aller Drohungen, Knüppel, Fußtritte und Verhaftungen. 90 % stimmten für eine freie, demokratische und katalanische Republik. 10% Gegner stimmten nur dagegen. Der Rest wurde durch die hässlichen schauerlichen Bilder in allen Medien abgeschreckt. Daraus lässt sich mathematisch ableiten, dass die motivierten Katalanen dieses Mal wählen werde. Ganz bestimmt keine der rechten Parteien, zu denen mittlerweile auch die Sozialisten gehören. Abwarten und Tee trinken
Klappstuhl
Ich finde es ja immer so putzig einerseits betont die EU unsere Stärke in der Vielfältigkeit liegt und gleichzeitig schaut sie zu wie Leute ihrer demokratischen Grundrechte braubt werden.
Der Erwin
In Flaggen gehüllte Nationalisten, die für völkische Einheit und nationale Identität ohne Not randalieren... ich hatte die Hoffnung, diese traurige Phase der Menschheit hätte man in einem geeinten Europa allmählich überwunden.
Priest
@Der Erwin Solange in Spanien nicht der Frankismus überwunden ist und das Recht auf Selbstbestimmung der Völker mit brutalster Gewalt unterdrückt wird, ist Ihr Wunsch reine Illusion.
Ich wundere mich eher über das Verhalten der anderen EU-Staaten, (ähnlich wie Klappstuhl), die öffentlich sehr zurückhaltend auf die Menschenrechtsverletzungen in Spanien reagieren.
Eine Schande für die ganze EU!