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Proteste in InguschetienEin Land auf Schrumpfkurs

Die russische Republik Inguschetien soll verkleinert werden – zugunsten des benach­barten Tschetschenien. Und keiner weiß so recht, warum.

Protest mit Pferd: Inguschen demonstrieren in ihrer Hauptstadt Nasran am 26. März 2019 Foto: imago-images/TASS/Yelena Afonina

Nasran/Moskau taz | Ibragim, der 21-jährige Taxifahrer aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, muss die Geschwindigkeit drosseln, als sich der Wagen der Grenze zur Nachbarrepublik Inguschetien nähert. Vor knapp zwanzig Jahren war hier kaum ein Durchkommen. In den Tschetschenienkriegen galt der Kontrollpunkt offiziell nur als eine Verwaltungsgrenze.

Doch Grenzer und Soldaten hatten sich auf ein langes Provisorium in Verschlägen unter Tarnnetzen eingerichtet. Nur bei Tageslicht war die Passage erlaubt. Unendliche Schlangen bildeten sich damals auf beiden Seiten. Doch wer es aus dem umkämpften Tschetschenien bis zum Posten geschafft hatte, durfte zuversichtlich sein. Er hatte das Kriegsgebiet lebend verlassen.

Hinter der Demarkationslinie beginnt Inguschetien. Die Inguschen sie sind so etwas wie weitläufige Verwandte der Tschetschenen aus der Großfamilie der Wainachen. Sie sprechen dieselbe Sprache, Unterschiede im Dialekt stören die Verständigung nicht.

An den Krieg erinnert sich Ibragim nur dunkel, ein paar Momente aus dem Familienleben, sagt er. Sprechen möchte er darüber „lieber nicht“.

Der Taxifahrer ist mit Ramsan Kadyrow aufgewachsen, Tschetscheniens neuem Herrscher. Mit ihm hat sich nicht nur das Land selbst verändert, auch das Kräfteverhältnis zwischen dem Kreml in Moskau und Grosny verschob sich. Ramsan Kadyrow ist kein bloßer Befehlsempfänger mehr. Der Kreml lässt ihn gewähren, weil er fürchtet, die sensible Ruhe im Kaukasus könnte sonst gefährdet sein. Moskau rührt sich auch nicht, wenn Ramsan Kadyrow über die Grenzen Tschetscheniens hinausgreift.

Tschetschenien will sich beim Nachbarn bedienen

Dafür stehen Gebietsforderungen, die es in sich haben: 10 Prozent der Nachbarrepublik verlangt Kadyrow für sich. Die Inguschen sind verunsichert. Was will der Tschetschene und wie weit geht er? Und warum schweigt der Kreml?

Die Recherche

taz-Korrespondent Klaus-Helge Donmath besuchte Inguschetien im Dezember 2018. Aktuelle Informationen holte er telefonisch aus seinem Büro in Moskau ein.

„Inguschetien nahm viele von uns im Krieg auf“, erzählt der schmächtige Ibragim, langsam wird er gesprächiger. Den Taxometer hatte er im beidseitigen Einvernehmen schon abgestellt. Auch aus seiner Familie fanden einige Unterschlupf. Manche blieben Jahre, einige gar für immer, sagt er nachdenklich.

Die Gastgeber teilten mit den Flüchtlingen Wohnung und Essen. Selten drangen Klagen nach außen. Verwandtschaft, Gastfreundschaft und Notlage verpflichteten zu Gleichmut.

Und dann das: Ende September 2018 unterschreiben Ramsan Kadyrow und Inguschetiens Präsident Junus-Bek Jewkurow ein Papier, das offene Gebietsansprüche regeln sollte. Von einigen Hektar Austausch ist zunächst die Rede. Die Vereinbarung wird kaum publik gemacht. Es soll keine Unruhe geben.

„Hätte das nicht von der Zivilgesellschaft vorher besprochen werden müssen?“, fragt deshalb Barach Tschemursijew. Er ist einer der Vorsitzenden der Nichtregierungsorganisation Opora Inguschetii – was auf Deutsch so viel wie Rückhalt Inguschetiens bedeutet.

Zehntausend protestieren gegen den Landraub

Tagelange Versammlungen finden im Herbst 2018 statt, als die Menschen von der Vereinbarung erfahren. Zehntausende nehmen an Demonstrationen teil. Viele harren nachts in bitterer Kälte im Freien aus. Polizisten reihen sich ein.

Wir kämpfen um ­Identität. Werden wir Tsche­tschenien zugeschlagen, gehen wir verloren.

Barach Tschemursijew, Oppositioneller

Vor wenigen Tagen flammen die Proteste erneut auf. Die Demonstranten fordern Ende März den Rücktritt des inguschischen Republikpräsidenten Junus-Bek Jewkurows. Dieses Mal nehmen etwa 10.000 Menschen teil. Sie harren auch noch aus, als die Veranstaltung für beendet erklärt wird. Einheiten der russischen Nationalgarde greifen ein, es kommt zu Schlägereien. Truppen des inguschischen Innenministeriums stellen sich auf die Seite der Demonstranten. Mindestens neunzehn von ihnen werden danach aus dem Dienst entlassen.

Frauen, Männer, Junge und Alte sind sich einig: Es sei eine Pflicht, Widerstand zu leisten, meint Tschemursijew. Viele spürten, dass es nicht nur um Land und Boden ginge. „Da steckt ein anderes Menschenbild dahinter“, sagt er nach längerem Zögern. Es ginge um ihr Überleben. „Wir kämpfen um unsere Identität“, sagt er. „Werden wir Tschetschenien zugeschlagen, gehen wir verloren.“

Klar ist: Wird der Tausch vollzogen, zieht Inguschetien den kürzeren. Unabhängige Kartografen kommen zu dem Ergebnis, dass die Minirepublik 25.000 Hektar abtreten soll. Lediglich 1.250 Hektar bietet Tschetschenien zum Ausgleich an.

Zur Abgabe steht ein Naturschutzgebiet

Das strittige Land liegt in einem Naturschutzgebiet. Der Ersi-Nationalpark gilt als heiliger Ort, wo Inguschen ihre Vorfahren verehren. Die steinernen Wehrtürme der Wainachen dort reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück und gelten als Wahrzeichen der Republik.

Inguschetien ist die kleinste Republik Russlands. An Bevölkerungsdichte gehört es jedoch mit mehr als 160 Einwohnern pro Quadratkilometer zur dichtest besiedelten Region, vergleichbar mit Moskau und dessen Umland.

Mit Gras überwachsene kleine grüne Hügel und flaches Weideland beherrschen den Norden. Dazwischen verteilen sich Dörfer und Gehöfte. Von der Grenze bis in die alte Hauptstadt Nasran ziehen sich diese Orte wie ein endloser Vorortgürtel durch die Republik. Nasran wirkte eintönig, gäbe es dort nicht einen künstlichen See als Rückzugsort und den Blick auf schneebedeckte Berge.

Die Protestbereitschaft der Inguschen hat noch einen Grund. In den Wirren des sowjetischen Zusammenbruchs kam es 1992 bei einem anderen Nachbarn, den Nordosseten, zu Pogromen gegen Inguschen. Nach Ausschreitungen mussten Tausende in das kleine Inguschetien flüchten und ein ärmliches Leben in Lagern fristen. Gebietsverluste rufen deshalb traumatische Erinnerungen hervor: Erst im Westen, dann im Osten – und niemand kommt zu Hilfe.

Der Kampf von Barach Tschemursijew

Als der Grenzstreit zwischen Tschetschenien und Inguschetien im Spätherbst begann, hielt Barach Tschemursijew das noch für die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft. Inzwischen sind einige Hoffnungen verflogen. Das russische Verfassungsgericht erklärte die Forderung nach einem Referendum in der Republik für verfassungswidrig.

Tschemursijew ist um die fünfzig, er studierte und lehrte in Sankt Petersburg. Nach dreißig Jahren kehrte er mit seiner Frau in die Heimat zurück. Die Eltern bräuchten langsam Hilfe, sagt er. Alter ist im Kaukasus heilig.

Tschemursijew trägt einen eng geschnittenen Mantel und schwarze Hosen. Er fällt durch zurückhaltende Eleganz unter den anderen Männern auf, von denen viele Tjubeteiki auf dem Kopf tragen, bunte runde Käppchen.

Der Streit mit Tschetschenien ist nicht neu. 2012 schickte Kadyrow schon einmal seine ­Leibgardisten in die Republik. Im inguschischen Galaschki an der tschetschenischen Grenze hatten zwei Einheimische einen Sprengsatz ausgelöst. Kadyrow entsandte die berüchtigte Einsatztruppe der „Kadyrowzy“. Die vermeintlichen Terroristen „wurden beseitigt“, sagte der Despot damals.

Fast sieben Jahre sind seit dem Vorfall vergangen. Die Straße nach Galaschki führt gleich hinter dem Grenzpunkt in die Berge. In der Ferne thront der leicht abschüssige Stolowaja mit 3.000 Metern an der Grenze zu Georgien. Von der tschetschenischen Seite wird gerade eine Zufahrtsstraße dort hinauf gebaut. Mit den Inguschen ist der Bau nicht abgesprochen.

Der Zugang in das Naturschutzgebiet ist auch über eine andere Route gesperrt. Mehrere „schlagbaume“ – so das deutsche Lehnwort – halten jeden fern, berichten Wanderer.

Rätselraten über die Motive – und der Kreml schweigt

Unter den Inguschen herrscht Ratlosigkeit. Niemand weiß, was in dem umstrittenen Gebiet vor sich geht. Warum wandte sich ihr Präsident Junus-Bek Jewkurow nicht an seine Mitbürger? Er ist General der russischen Armee und gewiss kein Vorzeigedemokrat. Er habe sich aber bisher an rationale Entscheidungen gehalten, meint Oleg Orlow von der Moskauer Menschenrechtsgruppe Memorial, ein ausgewiesener Kaukasuskenner.

Auch der Vertreter Memorials vor Ort kann nur spekulieren. Tamerlan Akijew zuckt vor Ratlosigkeit mit den Schultern. Auf das Memorial-Büro in der inguschischen Stadt Nasran ist im vergangenen Jahr ein Brandanschlag verübt worden. Man ist umgezogen und schützt sich jetzt durch vergitterte Fenster.

Akijew bemüht sich um eine Erklärung. Er hält Gebietsreformen für ein mögliches Motiv, die den kleinteiligen Kaukasus in Zukunft zusammenfassen könnten. Andere fürchten, Moskau hätte dem Landtausch wegen der Ölvorkommen im Nationalpark zugestimmt.

Moskau schweigt. Im Umfeld des inguschischen Präsidenten Jewkujew herrscht Sprachlosigkeit. Die Republikbürokratie stellt sich taubstumm, geht noch seltener ans Telefon als sonst. Niemand kann und will eine Antwort geben, was vorgefallen ist und wer was angeordnet hat.

Viele Inguschen sind noch immer aufgebracht. Sie geben dem eigenen Präsidenten die Schuld für den Landtausch. Nicht wenige nehmen die schweigenden Tschetschenen in Schutz. Wegschauen, wegducken, solange es geht, meint Tschemursijew. Er warnt vor dem „totalitären Sog“, der vom Nachbarn ausginge.

Nach den Protesten vor knapp einer Woche ist den Demonstranten zugesichert worden, dass sie Anfang April erneut auf die Straße gehen dürften. Diese Erlaubnis ist kassiert worden. Die Fristen für eine Genehmigung reichten nicht aus, heißt es.

Magomed Muzolgow sieht darin einen Wortbruch. Die Opposition will nun entschieden, ob sie sich um eine neue Erlaubnis bemüht oder eine juristische Klärung anstrebt. Die Lage bleibt angespannt.

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