Proteste in Indien nach Vergewaltigung: „Ich teile Ihre Wut“
In Indien gab es Massenproteste gegen die Vergewaltigung einer Studentin. Doch die Debatte über Gewalt gegen Frauen ebbt schon wieder ab.
DELHI taz | Die Wut über das Verbrechen ist groß. Tagelang protestieren in Indiens Hauptstadt Zehntausende Menschen gegen die brutale Vergewaltigung einer Medizinstudentin in einem fahrenden Bus. Der Zorn richtet sich nicht nur gegen die Täter, sondern auch gegen Polizei und Politik, denen Versagen vorgeworfen wird. Die Staatsmacht reagiert mit Tränengas und Schlagstöcken. 140 Menschen werden verletzt.
Die Medien des Landes berichten ausführlich über das Verbrechen. In Talkshows wird über Gewalt gegen Frauen und die Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft debattiert. Zur Sprache kommt auch die angebliche Apathie von Regierung und Behörden gegenüber den Sorgen und Nöten der einfachen Leute. Der Ruf nach politischen Konsequenzen wird laut. Angesichts des Aufruhrs wendet sich der sonst eher schweigsame Premierminister ans Volk. „Als Vater von drei Töchtern teile ich Ihre Wut“, sagt Manmohan Singh.
Zeitweise scheint es, als sei in Indien etwas Bewegung geraten, als könne ein einzelnes Verbrechen gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen.
Was war geschehen? Das 23-jährige Opfer ist nach einem abendlichen Kinobesuch mit einem Freund auf dem Weg nach Hause. An einer Haltestelle steigen die beiden in einen privaten Stadtbus. Doch im Inneren sitzen keine Passagiere, sondern sechs angetrunkene Männer. Der Fahrer ist ihr Komplize. Sie verprügeln das Paar mit Eisenstangen und fallen dann über die Frau her. Noch immer ringt sie im Krankenhaus mit dem Tod.
Sexuelle Belästigung an der Tagesordnung
Trotz der Brutalität des Verbrechens fragen sich engagierte Bürgerrechtler, warum ausgerechnet dieser Fall einen solch großen öffentlichen Aufschrei auslösen konnte. So hat Neu-Delhi seit langem den Ruf, für Frauen ein gefährliches Pflaster zu sein. Die sexuelle Belästigung von Schülerinnen und Studentinnen – verharmlosend „eve teasing“ („Eva ärgern“) genannt – ist an der Tagesordnung.
Bei den Gewalttaten gegen Frauen führt die Hauptstadt die Statistik aller indischen Metropolen an – mehr als ein Viertel davon wird hier verübt. Im vergangenen Jahr wurden knapp 600 Vergewaltigungen angezeigt. Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein, weil die meisten Opfer schweigen.
Auch Gruppenvergewaltigungen in fahrenden Autos hat es in Neu-Delhi schon gegeben. 2005 war eine 20-jährige Studentin in eine Limousine gezerrt und darin von vier Männern vergewaltigt worden. 2010 wurde eine junge Angestellte nach der Arbeit überfallen und in einem Kleinlaster von fünf Männern vergewaltigt. Öffentliche Proteste blieben jedoch aus.
Ein Grund dafür könnte sein, dass die Opfer aus Mizoram im fernen Nordosten stammten. Die Region an den Grenzen zu Bangladesch, China und Birma unterscheidet sich ethnisch, kulturell und religiös vom Rest des Landes. Vielen Menschen in Delhi oder Mumbai sind die Gegend und die Menschen von dort fremd. Das Opfer der jüngsten Vergewaltigung ist dagegen eine Studentin aus der Hauptstadtregion. Sie stammt aus der Mittelschicht. Mit ihr könne sich die große Mehrheit identifizieren, mutmaßen Beobachter.
Drei von vier Tätern straffrei
Trotzdem hat der Fall große gesellschaftliche Probleme ans Tageslicht gebracht, etwa den Umgang von Justiz und Polizei mit Vergewaltigungen. „96 Prozent aller Fälle sind nur eine Akte“, beklagt die Sozialwissenschaftlerin Ranjana Kumari im Fernsehen. „In den Fällen, die tatsächlich verhandelt werden, gibt es keine Verurteilung. Drei von vier Tätern bleiben straffrei.“
Auch über das traditionell geprägte Frauen- und Familienbild und die Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern wurde diskutiert. Letzteres hat fatale demografische Folgen. Studien zufolge wurden in den letzten drei Jahrzehnten über zwölf Millionen weibliche Föten abgetrieben. Nach Angaben des Medizin-Journals The Lancet gibt es heute in der Altersgruppe bis sechs Jahre in ganz Indien rund sieben Millionen weniger Mädchen als Jungen.
Eineinhalb Wochen nach der Tat kommen die Debatten jedoch schon wieder zum Erliegen. Die politisch Verantwortlichen haben den Sturm der Entrüstung ausgesessen und inzwischen ein eigenes Thema gesetzt: Am ersten Weihnachtstag starb ein Polizist, der bei den Protesten gegen die Vergewaltigung schwer verletzt worden war. Die Stadtregierung von Neu-Delhi ließ ihn mit staatlichen Ehren zu Grabe tragen und alle Medien haben darüber berichtet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein