Proteste in Ferguson: Stehenbleiben verboten
Für viele Demonstranten in Ferguson ist die schwarze Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre weit weg. Sie wollen jetzt Geschichte schreiben.
FERGUSON taz | Die West Florissant Avenue ist wie Tausende andere Ausfallstraßen, die durch US-amerikanische Vorstädte führen. Vier Fahrspuren in zwei Richtungen. Gesäumt von einer nicht enden wollenden Kette von Tankstellen, Supermärkten, Pfandleihhäusern und Fastfood-Restaurants mit Drive-Throughs. Tagsüber steuern Frauen die Parkplätze vor den Geschäften an. Abends schlendern Jugendliche über die schmalen Asphaltstreifen auf beiden Seiten der Fahrbahn.
In dem Ecklokal „Reds“, das seine Rippchen als die besten im Großraum St Louis anpreist, hat auch Michael Brown gegessen. Seine Oma wohnt fünf Minuten Fußweg entfernt, an der Querstraße Canfield Drive. Wenige Stunden nachdem der Teenager am Nachmittag des letzten Samstags seiner Sommerferien von dem Polizisten Darren Wilson auf dem Weg dorthin erschossen wurde, war das „Reds“ der erste Laden, der der Wut von Jugendlichen zum Opfer fiel. Sie schlugen die Scheiben ein, Tage später flog ein Brandsatz ins Innere. In den folgenden Nächten sollten auch zahlreiche andere Geschäfte längs der West Florissant Avenue beschädigt und teilweise geplündert werden.
„Wir kommen zurück“ hat jemand rot auf die Holzplatten bei „Reds“ gesprüht, mit denen die Fenster vernagelt sind. Jedes Mal, wenn irgendwo Scherben auf dem Boden lagen, haben anschließend Demonstranten aufgeräumt und gekehrt. Am Mittwoch hat das Lokal erstmals wieder Rippchen verkauft. Unter den ersten Kunden waren Polizisten von der State Highway Patrol, die jetzt zu Dutzenden auf der West Florissant Avenue stationiert sind.
Am Ende des Tages stützt sich „Reds“-Manager Herc Harris auf den Metalltresen und sagt, dass er die Plünderungen zwar nicht billige, aber verstehen könne. „Die jungen Leute versuchen, sich Gehör zu verschaffen.“
Anerkennendes Hupen
Ein paar hundert Meter weiter ist „freestyle“ auf der anderen Straßenseite einer der wenigen verschont gebliebenen Läden. Im Schaufenster klebt ein DIN-A4-Blatt mit der Aufschrift: „Dieses Geschäft ist in schwarzem Besitz“. Darunter der Slogan: „Hands Up – Don’t Shoot“. Und der Verweis auf Twitter: „#MikeBrown“. Im Friseursalon rasiert Mike Knox an den letzten Feinheiten eines „Box Fade“-Schnitts. Auf dem roten Sessel sitzt ein kleiner Junge, der vermutlich der letzte Kunde dieses Tages sein wird. Seit dem Tod von Michael Brown schließt Mike Knox sein Geschäft schon um 17 Uhr. Das ist zugleich der Moment, in dem die Polizei die West Florissant Avenue für den Verkehr sperrt. Und die meisten von Knox’ Kunden – „insbesondere die älteren“ – trauen sich später nicht mehr auf die Straße. Der 33-jährige Friseur bleibt trotz Schließens bis zum Morgengrauen an seiner Kasse sitzen. „Ich bin einfach da“, sagt er. „Das reicht, um Plünderungen zu verhindern.“
Nach zwölf durchwachten Nächten und schweren finanziellen Einbußen ist Mike Knox „müde“. Aber er kritisiert die Plünderer nicht. „Manchmal sind solche Dinge nötig“, sagt er, „wir werden doch alle ständig von der Polizei schikaniert.“ Er meint Straßenkontrollen „wegen nichts und wieder nichts“, spricht von Festnahmen und Anraunzern. Erst kürzlich musste er seinen Sohn auf der Wache abholen. Die Polizei hatte den 15-Jährigen auf einem Parkplatz an der West Florissant Avenue festgenommen, wo er sich mit Freunden traf. Begründung: Die Jungen hätten „herumgelungert“. Das Telefon des Friseurs klingelt. Seine Frau teilt mit, dass sie gerade von der Polizei aus dem Verkehr gewunken worden sei. „Schon wieder eine Strafe“, brummt der Friseur.
„Genug“ ist ein Wort, das in den zurückliegenden Tagen in Ferguson in Mode gekommen ist. Kaum steht „Enough“ auf einer Pappe, die jemand an einem Straßenrand hochhält, hupen die vorbeifahrenden Autofahrer und heben anerkennend den Daumen. Ähnlich verhält es sich mit der laut gerufenen Frage: „Wer sind wir?“ Auf die ein Sprechchor antwortet: „Michael Brown“. Nach Einbruch der Dunkelheit bewegen sich kleine Gruppen in dem von der Polizei „genehmigten Demonstrationsraum“ längs der West Florissant Avenue auf und ab. Stehen bleiben dürfen weder die Demonstranten noch die Journalisten. Wer es tut, riskiert die Festnahme. Wer in der Mitte der gesperrten Straße geht, ebenfalls. „Wenn Leute stehen bleiben, können sich kompakte Versammlungen bilden“, begründet eine Polizistin das Verbot.
Obama soll kommen
Während sie in schnellem Schritt durch die Sommernacht gehen, schwenken die Demonstranten ihre handgemachten Transparente, deren Motive sie oft ändern. „Guckt hierhin, um zu sehen, wer wir sind“, hat eine Frau auf ihr zitronenfarbenes Transparent geschrieben. In der Mitte prangt ein Spiegel. Er wirft das Bild einer überwiegend schwarzen Gesellschaft auf der Straße zurück. Mit einer geschlossenen Wand von mehrheitlich weißen Polizisten im Hintergrund. „Präsident Obama – bitte komm zu uns nach Ferguson“, steht auf einem Schild, das eine Nacht lang unterwegs ist. Der schickte seinen Justizminister.
Anwohner aus Ferguson überreichen den Demonstranten im Laufschritt kleine Wasserflaschen. Und beidseits sind die Demonstrationen von Geistlichen flankiert, von denen einige in voller schwarzer Montur mit harten weißen Kragen unterwegs sind. Sie sind Baptisten, Pfingstler, Imame und Katholiken. Einzelne afroamerikanische Prediger, die ihr Kirchenamt freiwillig ausüben, haben sich seit Michael Browns Tod unbezahlten Urlaub genommen.
Sobald eine Demonstration stehen bleibt und die Polizisten ihre Schilder zucken, mit den Stiefeln scharren, Lautsprecherdurchsagen machen und sich in Richtung Demonstranten in Bewegung setzen, spornen die Geistlichen die Demonstranten zur Eile an. „Wir wollen Gerechtigkeit für Michael Brown haben“, sagt Pastor Derrick Robinson, „wir wollen nicht alle ins Gefängnis.“ Ebenfalls am Rande der Demonstrationen laufen Sanitäter, Menschenrechtsbeobachter und Delegationen von schwarzen Anwälten mit. Sie versuchen Polizeiübergriffe zu verhindern. Und nächtliche Randale. „Randale“, sagt einer, „ist die Sprache der Ungehörten.“
Eine "Sundown Town"
Ferguson, das heute zu zwei Dritteln schwarz ist, war in den 50er Jahren eine „Sundown Town“. Einer jener Orte, aus denen Afroamerikaner nach Sonnenuntergang zu verschwinden hatten. Mit der Einführung von ethnisch gemischten Schulbezirken und der „weißen Flucht“ aus der Innenstadt zogen die ersten Afroamerikaner in die Mittelschichtsvorstadt am Ortsrand von St Louis. Doch erst in den 80er Jahren bekam Ferguson die Hautfarbe, die es heute hat.
Auch ein paar Ältere laufen im Demonstrationszug mit. Einer von ihnen ist der 60-jährige Anthony Shahid. Er trägt schwere Ketten und mehrere geknotete Seile um den Hals sowie eine Peitsche in der Hand. „Diese Geräte haben SIE sie gegen UNS eingesetzt“, sagt er. Eine Gruppe von jungen Männer um ihn herum lauscht andächtig.
Für die meisten jungen Leute auf dem heißen Asphalt der West Florissant Avenue in Ferguson ist die Bürgerrechtsbewegung der 60er Vorgeschichte. Sie haben das Gefühl, dass jetzt ihr Moment gekommen ist, um Geschichte zu schreiben. Dafür sind manche aus Chicago, aus New York und aus Miami angereist. Viele kennen Jugendliche, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind, es aber nie in die Schlagzeilen geschafft haben. „Da hat niemand geplündert“, sagen sie: „Und das Fernsehen ist nicht gekommen.“ Die 20-jährige Verkäuferin Dominique fährt abends nach Dienstschluss nach Ferguson. Bei der Arbeit hört sie manchmal Sätze von weißen Landsleuten wie: „Für eine Schwarze bist du hübsch.“ Missouri ist „rassistisch“ sagt sie, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Und ihre Freundinnen stimmen zu. Sie wollen, dass sich das ändert. Und sie glauben, dass eine Verurteilung des polizeilichen Todesschützen dafür der nötige Anfang ist.
Schulen sind geschlossen
„Wenn jemand von uns den Polizisten erschossen hätte, wäre er längst hinter Gittern“, sagt der 22-jährige Dyanthany. Neben ihm im Demonstrationszug geht ein 39-jähriger Mann, dessen Sohn mit Michael Brown befreundet war. „Wenn der Polizist nicht angemessen bestraft wird“, sagt er, „wird es hier kein Halten geben.“ Angemessen – das bedeutet für die meisten Demonstranten in Ferguson „lebenslänglich“.
Nach 12 Tagen und Nächten auf der Straße haben sie gelernt, wie sie mit Verbrennungen durch Tränengas umgehen müssen. Im Ort haben mehrere Stadtteilzentren damit begonnen, Lebensmittelpakete an Leute zu verteilen, deren Nachbarschaftsläden vom Militär geschlossen oder nachts geplündert wurden. Und weil die Schulbehörde alle Schulen in Ferguson für die Dauer des Konflikts geschlossen hat, sind Lehrer eingesprungen, um die Kinder zu betreuen. Die Organisation „Girls.Incorporated“, die sonst außerschulische Aktivitäten anbietet, hat in dieser Woche ihre Räume für Mädchen aller Altersgruppen geöffnet. „Viele sind durch die Ereignisse im Ort traumatisiert“; sagt Chefin Ceryl Jones, „sie brauchen einen beschützten Raum.“
An dem Ort, wo Michael Brown starb und wo sein Leichnam vier Stunden lang unbedeckt auf dem Asphalt hinter Polizeisperren lag, befindet sich jetzt ein Mahnmal aus Blumen, Luftballons und Sinnsprüchen. „Peace, Love, Ferguson“ steht auf einem Luftballon. Direkt daneben hat der Radio-DJ Sidney Caldwell unter einem Zeltdach seine großen Boxen aufgestellt und beschallt die Szene mit Rock. „Ich gebe der Community etwas zurück“, sagt er.
Die Nationalgarde, die der Gouverneur nach Ferguson geschickt hat, hat ihr Hauptquartier am Ortseingang bezogen. Am späten Nachmittag wünschen die Soldaten in Kampfuniform den Demonstranten, die zur West Florissant Avenue unterwegs sind, eine erfolgreiche Demonstration. Ältere Teilnehmer entgegnen ihnen ein „Danke für euren Dienst“. Am späten Abend, wenn die Polizei auf der Avenue, wo Ferguson sein neues politisches Zentrum hat, mit Festnahmen beginnt, sind auch die Soldaten am Ortseingang weniger locker.
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