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Proteste in ChinaWeißt du, was ich sagen will?

In China halten Protestierende unbeschriebene Papierblätter in die Luft. Woher weiß man, was jemand sagen will, wenn er vor Angst nicht mehr spricht?

Weiße, unbeschrieben Blätter als Form des wortlosen Protests Foto: Tyrone Siu/reuters

I m späten November steht ein Mann auf einem Bürgersteig in Shanghai und streckt die Arme in die Luft. In den Händen ein Stück Papier mit der Aufschrift 你知道我要说什么: Du weißt, was ich sagen will.

Ich würde sagen, dass ein wesentlicher Teil des Chinesischseins im Weglassen besteht. Wir tauschen uns aus über die Welt und das Leben und dann wird unweigerlich etwas schwer oder tragisch, schmerzhaft, rührend, das ist eine global gültige Regel. Also sagt jemand 别说了吧, Lass’ uns nicht mehr darüber reden, und wir nicken, bis der glasige Film auf den Augen getrocknet ist.

Einer verschwindet auf den Balkon und zündet sich eine Zigarette an. Eine verschwindet in der Küche und salzt das Gemüse. Einer zückt das Handy und checkt die Ergebnisse des letzten Fußballspiels. Und noch eine schließt sich im Bad ein und wäscht das rote Gesicht mit kaltem Wasser ab. Alle atmen durch und machen weiter. Es gibt viele Strategien des Schweigens.

Ich würde sagen, dass ein wesentlicher Teil des Deutschseins die Besprechung ist. Wir besprechen alles, Politik, Religion, Tagesabläufe, Beziehungen, und wir halten es sehr schwer aus, wenn mal etwas unausgesprochen bleibt. Ich will nicht mehr darüber reden, das ist beinahe ein Affront, den Raum zu verlassen ist ein Eingeständnis von Schwäche – wir müssen aber reden, du, wir pflegen eine Diskussionskultur, obwohl es sich manchmal eher um abwechselnde Monologe handelt.

Wir wissen viel zu wenig über China

Im späten November haben die Ar­bei­te­r*in­nen die Fabrik verlassen. Sie sind gegangen, abgehauen, sind über Zäune geklettert, haben Barrikaden durchbrochen. Tage später werfen Beamte zurückgelassenes Hab und Gut aus den Wohnheimen, zwischen den Türmen aus Beton wachsen bunte Berge aus Stoff und Plastik.

Im späten November wurden die Menschen dem Feuer überlassen, und es war nicht gestattet, für sie Kerzen anzuzünden und Blumen niederzulegen. Im späten November wurden Menschen abgeführt, spazierten Alpakas über die Wulumuqi Road und eine Frau schrie den Polizisten ins Gesicht, dass es doch ihre Aufgabe sei, den Menschen zu dienen. Und im späten November stand eine Studentin auf ihrem Campus und hielt ein weißes, unbeschriftetes Stück Papier in den Händen. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Weißt du, was sie sagen wollen?

Die Welt ist nicht plötzlich eine andere. Aber oft wird erst durch Anklage ganz sichtbar, wie grausam etwas ist. Was ich sagen will? Wir wissen viel zu wenig über China, ich auch. Niemand bleibt einfach so eine Expertin für etwas, besonders nicht auf Entfernung. Wir berichten über das mit der Wirtschaft, das mit den Menschenrechten, das mit den Überwachungskameras, immer wieder. Aber was die Menschen sagen wollen, das ist ein immer größeres Rätsel, dabei ist es doch das Wesentlichste. Woher weiß man, was jemand sagen will, wenn er vor Angst nicht mehr spricht?

Trotzdem: Im späten November stand ein Fenster offen. Da hat eine etwas in die Nacht gebrüllt und dann noch eine und noch einer und immer mehr, so klar wie seit dreißig Jahren nicht. Du weißt, was ich sagen will. Das Papier wird sehr schnell wieder weiß, aber erinnerst du dich an magische Tinte? Da steht nichts. Und trotzdem alles.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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2 Kommentare

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  • In diesem Land täten einige Menschen auch gut daran zu schweigen.

  • Schweigende Worte - vielsagend!



    Auf dass sie gehört werden.