Proteste in Chile: Zwischen Wut und Tränengas
Auch nach der Absage der Klimakonferenz geht die Polizei hart gegen die Demonstrierenden vor. Die Umfragewerte des Präsidenten sinken.
Erst am Mittwoch hatte Chiles Präsident Sebastián Piñera wegen der anhaltenden Proteste die im Dezember geplante UN-Klimakonferenz (COP25) abgesagt. Doch die Absage steht derzeit nicht im Fokus der Demonstrierenden.
Am Plaza Italia, dem traditionellen Treffpunkt, haben sich Tausende Menschen zusammengefunden und blockieren den Kreisverkehr. Sie singen „Chile Despertó“, „Chile ist aufgewacht“. Die Stimmung ist friedlich und feierlich. „Ich protestiere für ein gerechteres Bildungssystem, eine würdevolle Rente für meine Großeltern und ein besseres Gesundheitssystem.
Deshalb sind wir hier und kämpfen“, erzählt die Psychologiestudentin Maira Cisterna. Sie musste sich verschulden, um die Universität zu besuchen. Es wird jeden Tag gefährlicher hier am Plaza Italia für die Demonstrierenden. „Die Polizisten schießen auf uns aus geringer Distanz. Hier werden keine Menschenrechte respektiert“, sagt Cisterna.
Ins Auge Geschossen
Untersuchungsteams von den Vereinten Nationen und von Amnesty International sind gerade in Chile, um die Lage der Menschenrechte zu untersuchen. „Die Gesellschaft wird traumatisiert und das muss die Regierung verstehen“, sagte Pilar San Martín von Amnesty International im chilenischen Fernsehen.
Der 24-jährige Student Rodrigo Lagarini aus Concepción ist am Mittwoch nach Santiago gekommen, um in der Menschenrechtskommission des Senats vorzusprechen. Er hat ein Auge verloren, weil ein Polizist bei einem friedlichen Protest aus 20 Meter Distanz eine Tränengasbombe in sein Auge geschossen hat. „Was mir passiert ist, sollte niemandem mehr passieren. Wir sind doch Menschen, keine Tiere. Ich verstehe nicht, warum die Polizisten nicht einsehen, dass dieser Kampf nicht gegen ihr eigenes Volk ist, sondern gegen die Größeren, die gar nicht interessiert, was hier passiert, weil sie so viele Privilegien haben. Wir brauchen einen Wandel“, sagte er in der Kommission.
146 Personen wurden bisher während der Proteste ins Auge geschossen, wie Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte belegen. Insgesamt gibt es 1.305 Verletzte in Krankenhäusern, 4.271 Festnahmen und Regierungsangaben zufolge 20 Tote. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher. Von der Regierung gibt es keine offiziellen Zahlen zu Verletzten. An den Verband Feministischer Anwältinnen Abofem haben sich bisher 35 Frauen gewendet, die von Polizisten oder Soldaten sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden.
Aufgrund der vielen Toten, Verletzten und Verhafteten während der Proteste bezeichnen immer mehr Rechtswissenschaftler das Verhalten der chilenischen Regierung als verfassungswidrig. Tomás Ramírez, Anwalt und Jurist der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile, sagt: „Was wir in Chile erleben, ist eine systematische Verletzung der Rechte aller Personen, ob sie protestieren oder nicht. Die Maßnahmen der Regierung sind verfassungswidrig und widersprechen den internationalen Menschenrechtsabkommen.“
Amtsenthebungsverfahren gegen Piñera
Abgeordnete der Opposition haben deshalb eine Verfassungsklage gegen den ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick eingereicht und arbeiten gerade an einer Verfassungsklage und einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Piñera. Angestoßen wurde die Initiative von Abgeordneten des Bündnisses Frente Amplio und des Partido Comunista. Die nötigen Unterschriften für den Prozessbeginn haben sie bereits gesammelt, aber für eine Amtsenthebung sind zwei Drittel der Stimmen des Senats notwendig.
Piñeras Umfragewerte befinden sich im Keller, die Zustimmung für ihn ist auf 14 Prozent gesunken. Die Umfrage offenbart, dass 80 Prozent der Bevölkerung die sozialen Reformen für unzureichend halten. „Die Regierung befindet sich in einer Sackgasse. PiñerasRücktritt ist eine der Forderungen der Bürger“, sagt Octavio Avendaño, Politikwissenschaftler der Universidad de Chile.
Während am Plaza Itala weiter protestiert wird und Rechtswissenschaftler und Oppositionspolitiker an der Verfassungsklage gegen Piñera arbeiten, haben sich in ganz Chile basisdemokratische Nachbarschaftsvereinigungen gegründet, sogenannte „cabildos“ oder „asambleas autoconvocadas“. Im Zentrum Santiagos im Barrio Yungay kommen jeden Abend hunderte Menschen zusammen und organisieren sich in Kleingruppen, um ihre Forderungen zu besprechen. Es gibt verschiedene Kommissionen: Bildung, Gesundheit, Kommunikation, Ernährung, Transport.
Mit Kochtöpfen Lärm gemacht
Die 28-jährige Claudia Sepúlveda ist eine der Sprecherinnen der Versammlung. Sie hat als 14-jährige an den Schülerprotesten im Jahr 2006 teilgenommen. „Wir besetzen jetzt nicht mehr die Schulen, sondern die Straßen. Wir erleben ein ganz neues Gefühl, eine tiefsitzende Wut aber gleichzeitig eine neue Hoffnung. Eine Hoffnung auf ein besseres Leben“, sagt sie. „Wenn die Diktatur etwas zerstört hat, dann sind es die sozialen Bindungen. Sich mit den Nachbarn zu treffen, miteinander zu reden und einander zu vertrauen ist wie eine interne Revolution.“
Bei zwei Dingen sind sich alle einig: Die Regierung soll zurücktreten und eine neue Verfassung muss her. Die aktuell in Chile gültige Verfassung stammt noch aus der Militärdiktatur. „Wir wollen eine verfassungsgebende Versammlung. Und das ist nicht nur eine Forderung, sondern das ist ein Prozess, den wir hier im Viertel bereits begonnen haben“, sagt Pablo Abufom, ebenfalls einer der Sprecher der Versammlung.
Jeden Abend protestieren die Bewohner im Stadtviertel mit cacerolazos, einer Protestaktion, bei der mit Kochtöpfen Lärm gemacht wird. Sie haben einen neuen Protestruf erfunden: „Se Siente, Se Siente, Asamblea Constituyente!“ – „Man spürt es, man spürt es, die verfassungsgebende Versammlung!“
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