Proteste in Belarus: Riskante Nachbarschaftshilfe
Für Putin sind die Proteste in Belarus nicht ganz ungefährlich: Er befürchtet, sie könnten ansteckend sein. Riskiert er ein militärisches Abenteuer?
Als Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sich Mitte dieser Woche zu einem Gespräch mit Journalist*innen trifft, ist seine Warnung unüberhörbar. Auf die Frage nach den andauernden Protesten gegen den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko und der Rolle Russlands sagt er: „Das belarussische Volk ist unser Brudervolk. Was dort vorgeht, betrachten wir als innere Angelegenheit des Landes. In der jetzigen Situation darf es keinen Einfluss und keine Einmischung von außen geben. Leider müssen wir feststellen, dass Versuche einer unmittelbaren Einmischung stattfinden.“
Da ist es wieder, das Narrativ vom aggressiven Westen, der in den ehemaligen Sowjetrepubliken gezielt oppositionelle Kräfte finanziert, es in Wahrheit aber auf Russland abgesehen hat, das er zu destabilisieren sucht. Die farbigen Revolutionen in Georgien (Rosenrevolution 2003) und der Ukraine (Orange Revolution 2004) lassen grüßen.
Belarus ist, als eine Art vorgelagerte Sicherheitszone, für Russland von nicht zu unterschätzender geostrategischer Bedeutung. Es grenzt an die drei Nato-Mitglieder Litauen, Lettland und Polen, die dem einstigen Verbündeten nicht gerade freundlich gesonnen sind. Belarus wäre auch das perfekte Sprungbrett auf dem Weg in die russische Exklave Kaliningrad, sollte es zu einer ernsthaften Krise kommen.
Enge Verbindungen
Einen kleinen Vorgeschmack auf ein derartiges Szenario gab im September 2017 das siebentägige gemeinsame russisch-belarussische Militärmanöver Sapad 17 in Belarus – angeblich zu Übungszwecken und, offiziellen russischen und wohl etwas herunter gerechneten Angaben zufolge, mit einer Beteiligung von 12.700 Soldaten.
Doch nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich sind beide Staaten eng miteinander verbunden. Dabei diktiert Moskau die Preise. Belarus, das 40 Prozent seiner Waren zollfrei in das Nachbarland exportiert, erhält beim Kauf von russischem Gas und Öl Vorzugspreise unter Weltmarktniveau.
Experten beziffern die brüderliche Unterstützung – Russland ist mit einem Anteil von 38 Prozent an der Staatsverschuldung auch Minsks größter Kreditgeber – jährlich auf 10 Milliarden Euro. 2019 wurde nach einer Reform der russischen Steuergesetzgebung für Belarus das Öl teurer. Schätzungen zufolge könnten sich die Verluste für den belarussischen Staatshaushalt bis 2014 auf mehr als 10 Milliarden Euro belaufen.
Ohnehin hält sich die Geberlaune Russlands seit Längerem in Grenzen. Der Kreml will endlich eine Gegenleistung in Form einer politischen Dividende sehen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Vertiefte Integration
Der Hebel hierfür ist ein Unionsvertrag, den Lukaschenko und der damalige russische Präsident Boris Jelzin 1999 unterzeichnet hatten. Der Vertrag sieht eine vertiefte Integration beider Staaten vor – mit gemeinsamen politischen Institutionen, einer Währung nebst einem Raum für Wirtschaft, Transport und Energie sowie eine aufeinander abgestimmte Steuer- und Finanzpolitik.
Nach einer kurzen Anfangseuphorie verschwand das ambitionierte Projekt jedoch in der Schublade. Spätestens nach der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten 2000 begann es Lukaschenko zu dämmern, dass allenfalls der Status eines russischen Provinzgouverneurs in dem neuen Staatswesen auf ihn warten würde. Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie der Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014 führten zu weiteren Absetzbewegungen des obersten Belarussen.
Er fürchtete, berechtigterweise, um die Unabhängigkeit und Souveränität seines Landes – Attribute, die auch ein Großteil der Belaruss*innen nicht mehr missen möchte.
2018 hatte plötzlich Russlands Regierungschef Dmitri Medwedjew dringenden Gesprächsbedarf und formulierte ein Ultimatum an den widerborstigen Partner: Ohne Union bis Ende 2019 gebe es für Belarus keine Wirtschaftshilfe mehr. Dem folgten mehrere Treffen zwischen Putin und Lukaschenko, die weder eine Einigung bei Ölpreisen, noch eine Annäherung in Sachen Staatenunion brachte.
Doch jetzt, nach fast zweiwöchigen Massenprotesten in Belarus gegen Lukaschenkos angebliche Wiederwahl am 9. August, liegen die Dinge anders. Der Dauerherrscher ist angezählt, denkt jedoch nach 26 Jahren gar nicht daran in Rente zu gehen und klammert sich verbissen an die Macht.
Angst vor Ansteckung
Und Russland? Den Nachbarn in größtmöglicher Abhängigkeit und damit in der eigenen Interessensphäre zu halten – mit oder ohne Lukaschenko, hat absolute Priorität. Nicht minder wichtig ist es, eine erfolgreiche Revolution in einem Land zu verhindern, das Moskau als sein Einflussgebiet reklamiert. Denn zu groß ist die Angst, dass dieses Virus, bedrohlicher als Corona – auf Russland überspringt.
Wladimir Putin dürfte nicht erfreut gewesen sein, die belarussische Flagge in den Händen von Demonstrant*innen im russischen Chaborowsk zu sehen, die mit Protesten die Freilassung ihres Gouverneurs Sergej Furgal erreichen wollten. Nicht zuletzt könnten die Russ*innen auch auf die Idee kommen, eine Präsidentschaft von Putin auf Lebenszeit zu hinterfragen, die der sich mit einer Verfassungsreform und einem anschließenden sogenannten Referendum im vergangenen Frühjahr besorgt hat.
Lukaschenko hat sich für den Notfall des militärischen Beistands Russlands versichert. Ohnehin besteht die Möglichkeit der militärische Hilfe seitens des Bündnisses „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ (OVKS), an dem neben Russland und Belarus auch noch Armenien, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan beteiligt sind.
Derartigen Gedankenspielen gab sich auch die Chefredakteurin des russischen staatlichen Propagandasenders Russia Today, Margarita Simonjan, hin. Sie twitterte, es sei Zeit, „höfliche Menschen“ – womit bewaffnete und maskierte Angehörige der russischen Streitkräfte, die auf der Krim und in der Ostukraine eingesetzt waren, gemeint sind – nach Belarus zu schicken, um dort für Ordnung zu sorgen.
Das Risiko für Moskau dabei wäre hoch. Die Mehrheit der Belaruss*innen fühlt sich stark mit Russland verbunden. Russische Panzer in Minsk jedoch dürften der Zuneigung zum großen Bruder eher abträglich sein und vielleicht zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Bislang waren bei den Protesten keine Europa-Flaggen auszumachen. Auch an der Heimatfront könnte Putin nicht punkten. Angesichts der kostspieligen kriegerischen Abenteuer in Syrien, Libyen und der Ukraine dürfte eine derartige Nachbarschaftshilfe der einheimischen Bevölkerung kaum zu vermitteln sein.
Konstantin Gaase, russischer Soziologe
Bliebe als Alternative eine Intervention der anderen Art: Russland könnte versuchen bei der Bestimmung der Nachfolge für Lukaschenko orchestrierend einzugreifen. Und da dürfte Moskau fündig werden, denn Russophobie ist von keinem der oppositionellen Kandidat*innen bei der Präsidentenwahl überliefert. Das gilt insbesondere für Wiktor Babariko, der nicht zu der Wahl zugelassen wurde und im Gefängnis sitzt. Babariko war bis Mai dieses Jahres Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank, die dem russischen Konzern Gazprom gehört.
Abwarten?
Last but not least: Warum nicht die weitere Entwicklung abwarten? Vielleicht geht den Demonstrant*innen ja die Luft aus? Oder in Belarus wiederholt sich das armenische Szenario. 2018 kam in der Südkaususrepublik nach wochenlangen Protesten, der „Samtenen Revolution“, Nikol Paschinjan an die Macht. An den engen Beziehungen zwischen Moskau und Jerewan hat das nichts geändert.
Für den russischen Soziologen Konstantin Gaase sind die russisch-belarussischen Beziehungen eine Geschichte von Verrat, Betrug und endlosen Klagen, der Schuldige sei eindeutig Lukaschenko. Menschliche Sympathien zwischen Lukaschenko und Putin gebe es nicht.
„Ich bezweifle, dass Moskau Lukaschenko einen Hubschrauber schicken wird, wie seinerzeit Janukowitsch (ukrainischer Präsident, der 2014 gestürzt wurde, Anm. d. Red.), zitiert ihn das russische Nachrichtenportal Meduza. „Wenn doch, dann nur, um ihn sofort nach seiner Ankunft in Moskau hinter Gitter zu bringen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?