Proteste in Ägypten: Das permanente Volksfest
Das neue Ägypten entsteht auf der Straße. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo üben die Ägypter die freie Debatte - und entdecken ihren Humor wieder.
KAIRO taz | In meinem Büro gibt es einen Fernseher und ein Fenster. Beide bilden derzeit höchst unterschiedliche Realitäten ab. Im ägyptischen Staatsfernsehen stehen gerade die neuen Minister Schlange, um vor Präsident Husni Mubarak den Regierungseid zu schwören. Draußen vor dem Fenster ziehen immer wieder Gruppen mit dem Ruf "Stürzt Mubarak!" in Richtung des zentralen Tahrir-Platzes, um dort mit hunderttausend anderen die Innenstadt zu blockieren. Die eine Seite, die im Fernseher, führt ein Rückzugsgefecht nach dem anderen, die andere, die vor dem Fenster, schafft auf den Straßen Fakten.
Seit Tagen sitzen die Soldaten neben dem Ägyptischen Museum in unmittelbarer Nachbarschaft zum Platz der Befreiung, während um sie herum eine Art permanentes Volksfest tobt. Die Soldaten werden dort nicht als Fremdkörper behandelt, sondern stehen mittendrin in den Debatten darüber, wie es mit Ägypten weitergehen soll. Ihre Panzer sind vollgesprüht mit Slogans, die zum Sturz des Regimes aufrufen. Auf dem Platz sind die Soldaten und die Demonstranten schon längst zu einer Einheit verschmolzen. Da wirkt das Bild, in dem Mubarak inmitten der Militärführung sitzt und das stündlich im ägyptischen Fernsehen wiederholt wird, weit, weit weg.
Seit den Morgenstunden ist auch die Polizei zurück. Die meist verhassten Einheiten, die Bereitschaftspolizei und die Männer der Staatssicherheit aber sind weiterhin auf wundersame Weise aus dem Stadtbild verschwunden. Und die Streifen- und Verkehrspolizisten haben den Befehl, sich keiner Demonstration zu nähern und den Tahrir-Platz zu umgehen.
Neue Regierung: Ägyptens Präsident Husni Mubarak hat am Montag die Mitglieder seiner neuen Regierung vereidigt. Der pensionierte Polizeigeneral Mahmud Wagdi übernahm den Posten von Innenminister Habib al-Adli. Der Verteidigungs- und der Außenminister bleiben im Amt. Mubarak beauftragte den neuen Ministerpräsidenten Ahmad Schafik mit politischen Reformen.
Neuer Protest: Für den "Megaprotest" gegen Präsident Mubarak will eine oppositionelle Jugendbewegung am heutigen Dienstag in Kairo mehr als eine Million Menschen auf die Straße bringen, berichtet der TV-Sender al-Dschasira.
Neue Front: Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei bekräftigte seine Forderung nach einer Regierung der Nationalen Einheit, an der er auch ein führendes Mitglied der islamistischen Muslimbrüder beteiligen will. Die liberale Traditionspartei al-Wafd und zwei weitere Oppositionsparteien hingegen erklärten, al-Baradei spreche nicht in ihrem Namen.
Neue Angst: Was Baradei will, fürchten die koptischen Christen: "Wir sind sehr besorgt, dass die Muslimbruderschaft an die Schalthebel der Macht gelangen könnte", sagte Samia Sidhom von der Wochenzeitung Watani International. (reuters, dpa, dapd, epd)
Die Polizei versucht, ihr Image als Beschützer des Regimes abzustreifen. "Aber wir sind doch auch eure Söhne", sagt ein Polizeioffizier völlig verzweifelt, fast weinerlich, als er bei einer der unabhängigen Fernsehstationen anruft. Aber es gibt bei der Imagepflege einiges aufzuholen. Die Geschichten von Polizisten, die in Zivil beim Plündern erwischt wurden, sind inzwischen ins kollektive Gedächtnis eingegangen.
Im Therapierausch
So bleibt die Skepsis groß, dass die vorsichtige Rückkehr der Polizei der Versuch des Regimes ist, durch die Hintertür auf den Straßen wieder Präsenz zu gewinnen. Erst schaffen die Staatssicherheitsleute gezielt Unsicherheit und schließen die Gefängnisse auf, damit sie und das Regime dann als Retter in der Not erscheinen können. Aber wahrscheinlich haben die Ereignisse diesen Plan längst überholt, wenn er denn tatsächlich existiert hat.
Denn auf dem Tahrir-Platz wird schon lange das neue Ägypten als eine Art Befreiungskirmes zelebriert. Zwischen den Zigarettenverkäufern und Menschen, die kostenlos Datteln verteilen, entsteht nicht nur ein neues Ägypten, sondern es greift auch ein neues Gefühl um sich. Die jahrelange kollektive Depression, die dieses eigentlich humorvolle Volk in den letzten Jahren im Griff hatte, ist verschwunden.
Zunächst machten die Menschen ihrer Wut auf die Polizei Luft. Nun stehen sie auf dem Platz, und jeder kann sich frei über die letzten Jahre auslassen. Meist beginnt das mit dem Satz, "Weißt du, wie viel ich als … verdiene?", und endet mit einer Aufzählung der wichtigsten Lebensmittelpreise, die in keinem Verhältnis dazu stehen. Die Menschen beschreiben im Detail, was sie in all den Jahren unterdrückt hat und hören sich dabei gegenseitig zu, um schließlich einander in die Arme zu nehmen. Es ist wie ein Therapierausch.
Den Glückstrip wieder erleben
Man wird den Eindruck nicht los, dass viele immer wieder jeden Tag auf den Platz kommen um diesen Glückstrip zu erleben, der mit einem verwunderten "Ach dir ging's auch so schlecht" beginnt, um mit dem enthusiastischen Ausruf "Stürzt Mubarak! Nieder mit dem Regime!" endet. Die Militärführung, der eigentliche Königsmacher im Land, sieht sich das alles verwundert an. Für sie geht das wahrscheinlich alles ein bisschen zu schnell, um es begreifen zu können. Aber da geht es ihnen wie den Journalisten.
Auch mit der neuen Diskussionskultur kommt man nicht mehr mit. "Ich verstehe nicht, warum das Militär so lange zusieht und nicht Mubarak mit samt seinem Stuhl ins Flugzeug setzt." Der Mann, der bei der Fernsehstation anrief, um das zu sagen, ist kein Geringerer als ein hoher Offizier des ägyptischen Militärgeheimdienstes. Da ist er wieder, der Impuls, den man in den letzten Tagen so oft hatte: dass man sich vor Staunen ein wenig kaltes Nilwasser ins Gesichts schütten möchte.
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