Proteste gegen İmamoğlu-Festnahme: Die Türkei in Aufruhr
Nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu gehen Tausende auf die Straße. Sie kritisieren den „Putsch gegen den Willen des Volkes“.

Mehrere Tausend Menschen versammeln sich am Donnerstag vor dem Rathaus in Saraçhane in Istanbul. Der Eingang ist abgezäunt, die Straßen zum Teil gesperrt. Am Ende der Straße Richtung Taksim-Platz stehen Polizeiautos. Die Demonstranten kommen aus allen Ecken des Landes, aus Gebze, Mardin und vielen weiteren Städten. Es sind junge Menschen dabei, Alte, Arbeiter, Studenten und Rentner sind auf den Straßen, um für Demokratie zu protestieren.
Aus einem Lautsprecher hört man den inhaftierten Ekrem İmamoğlu sprechen: „Die Entscheidungsträger in diesem Land mögen irren, sie mögen dem Wahn verfallen, sie mögen Verrat an ihrem Amt ausüben. Aber wir werden nicht aufgeben. Alles wird wunderschön werden.“
Das Zitat stammt aus der Rede, die er am 6. Mai 2019, nachdem seine Wahl zum Bürgermeister annulliert wurde, hielt. Die Leute applaudieren, schwenken die türkische Fahne und recken ihre Fäuste in die Luft. Es ist der zweite Tag des Protests gegen die AKP und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Viele sind vermummt, und alle skandieren: „İstifa Erdoğan, istifa Erdoğan.“ Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten.
Anlass dieser Demonstrationen ist ein Vorgang, den man schon jetzt als historischen Wendepunkt der politischen Krise in der Türkei bezeichnen kann. In den frühen Morgenstunden des 19. März umstellten Hunderte Polizisten das Privathaus von Ekrem İmamoğlu in Istanbul und verhafteten ihn. Der Polizeieinsatz mit insgesamt 3.000 Einsatzkräften markierte den Höhepunkt eines monatelangen politischen Kesseltreibens gegen den populären Bürgermeister Istanbuls, der als einer der stärksten Gegner von Präsident Erdoğan gilt.
Der Versuch, İmamoğlus politische Zukunft zu blockieren
Doch İmamoğlu war nicht der Einzige, der an diesem Tag ins Visier der Behörden geriet. Zeitgleich wurden mehr als hundert weitere Kritiker der Regierung festgenommen, darunter zwei Bezirksbürgermeister Istanbuls, der bekannte Journalist İsmail Saymaz sowie Murat Ongun, İmamoğlus Medienberater. Auch prominente Aktivisten, Akademiker und weitere Journalisten fanden sich unter den Verhafteten.
Die Regierung begründete die Festnahmen mit angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen, ein Vorwurf, der in der Vergangenheit häufig gegen Oppositionelle erhoben wurde. Die Verhaftung war ein weiterer Schritt in einer Reihe von Maßnahmen gegen İmamoğlu, darunter die Aberkennung seines Diploms durch die Istanbuler Universität – ein klarer Versuch, seine politische Zukunft und eine mögliche Präsidentschaftskandidatur zu blockieren.
Trotz des verhängten viertägigen Versammlungsverbots und der Einschränkungen in den sozialen Medien war der Widerstand der Bevölkerung nicht zu stoppen. In den Stunden nach der Verhaftung strömten Tausende auf die Straßen, um gegen die Festnahme zu protestieren und für die Demokratie zu kämpfen.
Auffällig war der Widerstand der Studierenden, die sich nicht durch die Sperrungen der Metrostationen oder die Polizei abschrecken ließen. Sie marschierten am Mittwoch bereits aus der Mensa der Istanbuler Universität, skandierten den Protestslogan „Direne, Direne, Kazanacağız“ – „Nur durch Widerstand werden wir gewinnen“.

„Putsch gegen den Willen des Volkes“
Die Zahl der Demonstranten wurde schnell größer, als immer mehr Menschen aus verschiedenen Stadtteilen in Richtung Saraçhane, dem Sitz der Stadtverwaltung, strömten. Die türkischen Medien bezeichneten diese Entwicklung als einen „Schneeball“, der sich zu einer Lawine entwickelt habe.
Gleichzeitig finden auch in der Hauptstadt Ankara Demonstrationen statt. Dort schlossen sich Parlamentsabgeordnete einem Marsch an. Laut Medienberichten und Oppositionspolitikern wurden Plastikgeschosse gegen Demonstrierende eingesetzt. In Izmir versammelten sich ebenfalls zahlreiche Menschen.
Am Donnerstagabend, als die Proteste weiter an Intensität gewannen, äußerte sich auch die Co-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları. In einer Rede vor den Demonstranten in Saraçhane sagte sie, dass die Verhaftung İmamoğlus als „Putsch gegen den Willen des Volkes“ zu betrachten sei und dass solche Maßnahmen inakzeptabel seien.
Hatimoğulları kritisierte scharf die Methoden der Regierung, die politische Gegner mit Zwangsverwaltungen, Massenverhaftungen und der Aberkennung von akademischen Abschlüssen bekämpfe. Sie betonte, dass die DEM-Partei die repressiven Maßnahmen niemals akzeptieren werde und forderte die sofortige Freilassung von İmamoğlu und allen weiteren Verhafteten. „Wir brauchen keine Verhaftungen, sondern demokratische Reformen und Gerechtigkeit“, erklärte Hatimoğulları.
Der Protest, der bereits jetzt eine breite Bevölkerungsschicht umfasst, wird vor allem von der Republikanischen Volkspartei (CHP) unterstützt. Ihr Vorsitzender Özgür Özel hatte die Bevölkerung für die nächsten Tage zu weiteren Protesten vor dem Rathaus aufgerufen.
Wasserwerfer stehen bereit
Am Donnerstagabend kommen dann auch die Studierenden der Galatasaray Universität und der Technischen Universität Yildiz, angeführt von den Studierenden der Istanbuler Universität, dazu, um den Widerstand zu verstärken. Sie marschieren mit Slogans wie „Diplomasis Erdoğan, Diplomasis Erdoğan“ (Erdoğan hat selbst kein Diplom) und fordern ihn auf, seinen Abschluss zu zeigen. Sie werden von den Demonstranten bejubelt und beklatscht, eine Frau ruft ihnen zu: „Ihr seid unsere Hoffnung.“ Unter Rufen nach Demokratie und Gerechtigkeit schließen sich an diesem Abend immer mehr Menschen dem Protest an.
„Ich kenne keine andere Regierung, ich kenne nur den Zerfall unserer Demokratie, die Rechte, die uns Frauen entzogen wurden. Ich will eine Zukunft haben und sie gestalten – das geht nur in einem Land, in dem Gerechtigkeit herrscht“, sagt eine Studentin der Istanbuler Universität. Ihr Appell: Der Widerstand für eine demokratische Zukunft sei notwendig, und er müsse jetzt beginnen. Die Studierenden entscheiden, an diesem Tag spontan Richtung Taksim-Platz zu gehen, und rufen alle auf mitzukommen.
Die Proteste gehen im Saraçhane Park weiter. Die Atmosphäre zwischen den Demonstranten und der Polizei ist angespannt. Die Wege sind gesperrt, Wasserwerfer stehen bereit, Gummigeschosse werden geladen. Einige stehen den Polizeibarrikaden gegenüber und rufen: „Liebe Polizei, verkauft doch lieber Simit, das ist würdevoller.“
Bundesregierung kritisierte die Verhaftung
Eine weitere Sache ist für die Studierenden klar: Es gehe bei diesen Protesten nicht um die Parteien, sondern um sie selbst und alle, die unter der Korruption und der Ungerechtigkeit der autoritären AKP-Regierung leiden. Die Zukunft des Landes und somit ihre eigene stehe auf dem Spiel: „Wir wollen und wir können nicht mehr. Wir sind und wir bleiben hier auf den Straßen, um Widerstand zu leisten. Und wenn es sein muss, machen wir es wie damals zu Gezi-Zeiten. Einen Park haben wir auch“, sagt ein Student lachend und zeigt auf den Saraçhane Park, der sich direkt gegenüber der Stadtverwaltung befindet.
Internationale Organisationen, darunter der Europarat, äußerten sich besorgt und verurteilten die Festnahme İmamoğlus als einen Eingriff in den demokratischen Willen des türkischen Volkes. Menschenrechtsgruppen bezeichneten die Maßnahmen als antidemokratisch und forderten die sofortige Freilassung von İmamoğlu sowie die Wahrung der Meinungsfreiheit.
Auch die deutsche Bundesregierung kritisierte die Verhaftung als „schweren Rückschlag für die Demokratie“. Wirtschaftliche Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Die türkische Lira fiel auf ein Rekordtief, während die Aktienbörse enorme Verluste verzeichnete. Analysten befürchten, dass dieses Vorgehen die Bemühungen der Türkei, die Beziehungen zu Europa zu verbessern, nachhaltig beschädigen könnte.
Gegen die autoritären Tendenzen der türkischen Regierung
An diesem Donnerstagabend tritt CHP-Chef Özgür Özel vor die Menge und hält eine entschlossene Rede. Er fordert Erdoğan zum Rücktritt auf. Für Özel steht fest: Der wichtigste Tag sei der kommende Sonntag. Die CHP hat ihre 1,7 Millionen Mitglieder aufgerufen, via Urnenwahl ihren Präsidentschaftskandidaten für 2028 zu nominieren. Zusätzlich soll eine sogenannte Solidaritätsurne aufgestellt werden, damit alle Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme symbolisch abgeben können.
„Die Straßen gehören uns“, ruft die Menge. Die Hoffnung liegt für viele in der Studentenbewegung und der CHP: „Wir müssen auch nach diesen Tagen weiterhin auf die Straße. Ich hoffe, die CHP macht keinen Rückzieher, ansonsten würde das unsere Niederlage bedeuten“, sagt eine 70-jährige Demonstrantin, die aus Bodrum angereist ist.
Saraçhane ist offenbar der neue Ort des Widerstands. Die Proteste zeigen eine breitere Bewegung, die nicht nur gegen die Verhaftung von İmamoğlu, sondern auch gegen die autoritären Tendenzen der türkischen Regierung gerichtet ist. Die Frage ist, wie sehr diese Welle des Widerstands noch wachsen wird – und ob sie in den kommenden Tagen und Wochen eine politische Veränderung herbeiführen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!