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Proteste gegen „Ja“-Votum in der TürkeiEin Hauch von Gezi-Aufstand

Die Wut über den vermuteten Wahlbetrug vermischt sich mit Hoffnung: Tausende Türken demonstrieren in mehreren Großstädten gegen Erdogan.

Sind sauer: Antiregierungsproteste in Istanbul Foto: reuters

Istanbul taz | Es ist zunächst nur eine kleine Ansammlung von Menschen, die sich am frühen Montagabend im Zentrum von Besiktas zusammenfindet. Aufgerufen zu einer Demonstration hat das „Nein-Bündnis“ Besiktas mit Handzetteln und in den sozialen Medien mit der Parole: „Gegen den Stimmenklau beim Referendum – Wir haben gesiegt“.

Trotz anhaltendem Regen werden es dann aber immer mehr. Erste Sprechchöre, in denen Präsident Recep Tayyip Erdogan des Stimmendiebstahls bezichtigt wird, ertönen in den engen Gassen der Altstadt von Besiktas und als der Zug sich dann in Bewegung setzt, strömen auf einmal aus allen Ecken Menschen hinzu. Aus wenigen hundert Demonstranten werden innerhalb von Minuten mehrere Tausend. Da sich keine Polizei sehen lässt, verlieren immer mehr Menschen ihre Angst und schließen sich dem Zug an.

Plötzlich strömen Menschen eines ganzen Stadtteils durch die Gassen. Diejenigen, die zu Hause geblieben waren, öffnen ihre Fenster, erscheinen auf den Balkonen und trommeln zur Unterstützung der Demo auf Töpfen und Pfannen. Ein Hauch von Gezi-Aufstand liegt in der Luft. „Endlich“, ruft eine lachende Frau, „passiert mal wieder etwas Positives“. Die Wut über den vermuteten Betrug bei der Volksabstimmung am Sonntag vermischt sich mit der Hoffnung, mit größerem Widerstand auf der Straße vielleicht doch noch etwas zu retten vor Erdogans gierigem Griff auf das ganze Land.

„Wir geben nicht auf“, tönt es aus vereinzelten Megafonen, „der Kampf gegen den Faschismus fängt gerade erst an“.

Erdogan lässt sich nicht beeindrucken

Zur selben Zeit wie in Besiktas gehen am Montagabend auch in Kadiköy, der „Nein“-Hochburg auf der asiatischen Seite Istanbuls, tausende Menschen auf die Straße, um gegen den Wahlbetrug am Sonntagabend zu protestieren. Kleinere Demonstrationen gibt es auch in Ankara und Antalya. Nach Meldungen auf Twitter schreitet in Antalya die Polizei ein und nimmt einige Leute fest.

In Istanbul bleiben dagegen Zusammenstöße mit der Polizei bislang aus. Die Regierung lässt die Leute noch unbehelligt laufen, weil Erdogan wohl die Demonstrationen bislang nicht als Gefahr sieht. „Da sind wieder diese Leute mit ihren Kochtöpfen, die kennen wir doch schon“, soll er bei seiner Siegesfeier am Montagabend in Ankara gesagt haben.

Die beiden Oppositionsparteien, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die kurdisch-linke HDP, kündigen an, juristisch gegen den „Wahlbetrug“ vorgehen zu wollen, wenn die zentrale Wahlkommission ihre Einsprüche ablehnt. Notfalls will man bis vor den europäischen Menschenrechtsgerichtshof gehen.

Bislang macht Erdogan aber nicht den Eindruck, als ließe er sich davon beeindrucken. Scharfe Kritik der OSZE-Wahlbeobachter weist er mit dem Satz zurück, die sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern und die Türkei in Ruhe lassen. „Wir haben hier am Sonntag die demokratischsten Wahlen abgehalten, die die Welt je gesehen hat“, behauptet er.

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10 Kommentare

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  • Natürlich lässt sich Erdogan von nichts beeindrucken.

    Skrupellosigkeit pur, wie Assads Giftgaseinsätze, wie Putins Bombardierung der Einwohner Syriens.

     

    Das ist alles Teil der rechtsradikalen Offensive.

    Als nächstes geht es hier um die Unterstützung der KurdInnen, die nun Angst um ihr Leben haben müssen.

    Die traditionelle Türkenfeindlichkeit unterscheidet nicht mal zwischen Türken, Italienern und Kurden.

    Die BRegierung hat das PKK Verbot ausgeweitet.

    Das wäre doch die Maßnahme:

    Bundeswehrsoldaten schreiten über den Platz vor Kameras in Uniformen der YPG - wie vor einiger Zeit US-Soldaten.

  • @ R. Schramm

    Von welcher Mehrheit reden Sie denn? und wieso bürgerlich? Und woher wissen Sie das? Soll heißen eine Mehrheit von 440000 in Deutschland lebender Türken setzt sich über die Köpfe von 55 Mio wahlberechtigter Türken hinweg? Da fehlt mir irgendwo die Logik.

    @ R. Schramm, merken Sie was?

    • @Gerry:

      @GERRY: “Und woher wissen Sie das?

       

      Bereits 1970 besorgte ich mir umfangreiche Unterlagen für meinen Vortrag über die sozialpolitische und berufliche Lebenssituation von türkisch/kurdischen Erwerbstätigen in Westdeutschland. Insbesondere zu deren sozialpolitischen und innerbetrieblichen Überwachung durch türkische Konsulate und anderen türk. Regierungsstellen in Westdeutschland. Diese Papiere bekam ich damals, als junger gewerkschaftlicher Facharbeiter und Werkkunstschüler, von Max Diamant (IG Metall-Vorstand) in Frankfurt am Main.

       

      Im Verlauf meiner jahrzehntelangen Berufstätigkeit und auch als sozialpolitischer Gewerkschafter der Basis, arbeitete ich auch -unter anderem- mit türkischen/kurdischen/arabischen/syrischen/irakisch-iranischen und nordafrikanischen Kollegen zusammen. Als Facharbeiter, Meister und Ausbildungsleiter, war ich u.a. auch an der Berufsausbildung von türkischen und kurdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beteiligt.

       

      Von daher kann ich einiges mehr wissen, als die Mehrzahl der parlamentarisch -vorgeblich- damit beschäftigten Wahl- und Integrationspolitiker. Gewiss aber auch darüber mehr wissen, als ein Großteil der damit beschäftigten politischen Journalisten.

       

      Mit sozialpolitischen und gewerkschaftlichen Grüßen.

    • @Gerry:

      Wir hier werden mit Umfragen zugekleistert die von tausend Antworten auf das Meinungsbild der gesamten Gesellschaft schließt.

       

      Wieviel mehr kann man davon ausgehen dass die Mehrheit einer Wahl von Hunderttausenden in Deutschland von Millionen in der Türkei dem entspricht was auch die nicht Wählenden denken.

       

      Immer so wie es gerade passt. Ein genauso knapper Sieg der Nein-Wähler hätte wohl eine orgiastische Euphorie bei den "echten Demokraten" ausgelöst

  • Kleine mathematische Anmerkung zu R. Schramm. Wenn bei einer Wahlbeteiligung von 49% in Deutschland ca. 63,2 % für "ja" gestimmt haben, dann haben insgesamt 30% der Wahlberechtigten mit "ja" gestimmt. Das sind bei 1,4 Mio Wahlberechtigten gerade mal 440000. Als bitte die Kirche (Moschee) im Dorf lassen. Grüße

    • @Gerry:

      Wo liegt für Sie die Differenz der AKP und türkischen Nationalisten zur bundesdeutschen NPD?

       

      Wie würden Sie urteilen, würden sich "440.000" Bundesbürger (freiwillig und offen) für die Einführung einer postfaschistischen Diktatur und damit zugleich auch für die Todesstrafe in Deutschland entscheiden?

       

      Zudem kommt die Tatsache: Die (bürgerliche) Mehrheit der Wahlbeteiligten mit türkisch-deutschen Hintergrund, sie leben in relativ sozial und staatlich gut abgesicherten Lebensverhältnissen in Deutschland. Diese Mehrheit hat sich über die Köpfe der türkischen Bürger und Bürgerinnen hinweg, für die Einführung einer patriarchalischen Diktatur in der Türkei ausgesprochen!

       

      Also, diese deutsch-türkische und westeuropäisch-türkische Mehrheit entscheidet über die Zukunft der türkischen Bevölkerung, obwohl sie hier in relativ angenehmen bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen sind. So bereits in der zweiten und dritten Generation!

       

      Man müsste sich mal abstrakt vorstellen: die us-amerikanischen Bürger, mit deutschem Familienhintergrund, oder die australischen Bürger, mit deutscher Herkunft etc., würden sich bei einer Wahlbeteiligung über die Zukunft Deutschlands, in ihrer großen Mehrheit für die Wiedereinführung der faschistischen Diktatur in Deutschland aussprechen bzw. entscheiden; einschließlich der folgenden Todesstrafe, - wie auch der restlosen Beseitigung der Presse- und Meinungsfreiheit! (?)

       

      @Gerry, merken Sie noch etwas? Sie befinden sich mit ihrer Relativierung auf dem Holzweg, - oder? (!)

  • Bleibt nur anzumerken, dass ich sehr hohen Respekt habe vor den vielen mutigen 'Hayir'-Sagern, die sich den überbordenden Berichten, den medial weit mehrheitlich in Erdogantreue jubilierenden und sich an bekennenden Kundgebungen überschlagenden Medien mit ihrem Nein-Votum entgegengestellt haben.

     

    Sie müssen in Zukunft mit ganz erheblich größeren Gefahren leben - im Gegensatz zu den hier lebenden Ja-Sagern, derer sich Erdogan seit Längerem zweckdienlich annimmt.

     

    Was war an der Kritik der OSZE-Wahlbeobachter eigentlich scharf? Eher sachlich, wie ich finde.

     

    Jaja, der Club derer, die sich ihre dreisten Selbstbedienungsabsichten demokratisch legitimieren lassen wird immer größer. Alles lupenreine Demokraten...

  • Fakt ist: Die in der zweiten und dritten Generation im bürgerlichen Westeuropa lebenden Deutsch-Türken - insbesondere in Deutschland (63,2 %) und Niederlanden (71 % der Wahlbeteiligten) - sicherten Erdogan die feudal-kapitalistische und postfaschistische Diktatur in der Türkei.

     

    Und damit zugleich das Ende der Aufklärung und bürgerlichen Demokratie, das Ende der bürgerlichen Medien- und Pressefreiheit. Die Fortsetzung der Herrschaft des kulturell-traditionellen Patriarchats und des feudal-religiösen islamischen Aberglaubens.

     

    Es liegt letztlich an den sozialen Kräften der Aufklärung und des bürgerlichen Fortschritts, innerhalb und außerhalb der Türkei und an der sozialrevolutionären kurdischen Befreiungsbewegung, dem reaktionären gesellschaftspolitischen Treiben der AKP und den türkischen Nationalisten, ein nachhaltiges Ende im Zukunftsinteresse der türkischen Bevölkerungsmehrheit zu bereiten.

  • Man könnte ja mal darüber nachdenken was ihr schreiben würdet wenn die Nein-Sager mit 50,01 Prozent aus dem Referendum gegangen wären.

    • @conny loggo:

      Und die Nein-Sager haben wahrscheinlich auch gewonnen Man wird das aber nie genau wissen. Glaubt denn hier wirklich jemand, daß dieses Referendum jemals hätte anders ausgehen können? Es ist doch wohl offensichtlich, dass Herr Erdogan die Zahlen frei erfunden hat. Dies ist doch alles nur ein Schauspiel, um der ganzen Welt vorzumachen, dass Türkei eine Demokratie ist. Daß is nicht lache. Erst der Putsch, und jetzt das Referendum...alles nur Schauspiel. Mal sehen, was als nächstes kommt.