Protestbewegung in der Türkei: Alle hinter İmamoğlu
Dem jungen CHP-Chef Özgür Özel ist es gelungen, das ganze Land in Solidarität und Widerstand zu einen.
„Verliert nicht den Mut. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Hand in Hand werden wir diesen Schlag, diesen schwarzen Fleck auf unserer Demokratie ausmerzen. Ich stehe aufrecht, ich werde mich nicht beugen. Alles wird gut.“ Mit diesem Statement wandte sich der frisch entmachtete Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu an die türkische Bevölkerung, unmittelbar, nachdem das Gericht am Sonntagvormittag die Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet hatte.
Und die Reaktion ist überwältigend. Lange Schlangen bildeten sich vor den Parteilokalen der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP überall in der Türkei. Just für diesen Sonntag hatte die Partei İmamoğlus die interne Wahl für den Präsidentschaftskandidaten angesetzt und angesichts der aktuellen Entwicklung symbolisch auch für Nichtparteimitglieder geöffnet.
Kaum jemand hatte mit einem solchen Andrang gerechnet. In manchen Stadtteilen Istanbuls bildeten sich kilometerlange Schlangen und regelrechte Verkehrsstaus. Die Stimmung unter den WählerInnen war durchaus kämpferisch. „Das ist ein Putsch von oben“, sagte ein älterer Mann vor dem CHP-Parteilokal im Stadtteil Üsküdar. „Das werden wir nicht hinnehmen.“
Seit der Festnahme İmamoğlus am Mittwochmorgen ist die Türkei im Aufruhr, weit mehr, als vorher zu erwarten gewesen war. Dazu hat auch die CHP einen guten Teil beigetragen. Insbesondere der neue Parteichef Özgür Özel, der sich nach der Wahlniederlage bei der Präsidentschaftswahl 2023 in einer Kampfabstimmung gegen den langjährigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu durchgesetzt hatte, ist in den letzten Tagen über sich hinausgewachsen. Gleich am Mittwochmittag hat er sein Hauptquartier von Ankara in das Istanbuler Rathaus in Saraçhane verlegt und koordiniert von dort die Proteste gegen die Festnahme İmamoğlus.
Weg von der Beamtenmentalität
Kamen am Mittwochabend zunächst einige tausend Menschen zum Protest vor das Rathaus, wurden es in den folgenden Tagen immer mehr. In der Nacht von Samstag auf Sonntag sollen es rund eine halbe Million Menschen gewesen sein, obwohl der von Präsident Erdoğan ernannte Gouverneur von Istanbul noch am Mittwoch ein generelles Versammlungs– und Demonstrationsverbot für die gesamte Stadt verhängt hatte.
Es nutzte nichts. Nicht nur vor dem Rathaus, auch in vielen anderen Stadtteilen gingen die Menschen auf die Straße. Auch in anderen Städten des Landes, darunter die Hauptstadt Ankara, in Izmir, in Antalya, Antakya und selbst in AKP-Hochburgen wie Konya oder Sivas.
Özgür Özel ist gemeinsam mit Ekrem İmamoğlu als neues, junges Führungsduo der Partei gelungen, die CHP aus ihrer bräsigen Beamtenmentalität herauszuholen und vielen Leuten wieder die Hoffnung zu geben, dass eine andere Türkei als die von Erdoğan möglich ist. Ausdruck davon waren bereits die Kommunalwahlen im März 2024, bei denen die CHP nicht nur Istanbul nach 2019 erneut gewinnen konnte, sondern auch Ankara, Izmir, Bursa und alle weiteren Millionenstädte der Türkei mit nur einer Ausnahme in Konya eroberte.
Ein älterer Mann vor dem CHP-Parteilokal in Istanbul-Üsküdar
Für den erfolgreichen Widerstand der CHP gegen Erdoğans Willkürherrschaft trägt aber auch der alte, eher nationalistisch geprägte Parteiflügel um Mansur Yavas, den Bürgermeister von Ankara, bei. Yavas, parteiinterner Konkurrent İmamoğlus, hatte vor zwei Jahren mit rassistischen Ausfällen gegen syrische Flüchtlinge Wahlkampf gemacht. Jetzt setzt er ganz auf die Solidarität mit İmamoğlu. So ist die Partei im Moment wohl auch zur Überraschung von Erdoğan in der Lage, Menschen zu mobilisieren, die ihr bislang skeptisch gegenüberstanden.
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