Protest im Irak: Revolte auf drei Rädern
Sie holen die Verletzten und die Toten von der Frontlinie der Proteste: Die Fahrer von Motorrikschas, in Bagdad Tuk-Tuks genannt, leben gefährlich.
D oghram wartet in seiner eiergelben Motorrikscha auf dem Tahrir-Platz, dem Zentrum der Proteste in Bagdad, auf seinen nächsten Einsatz. Vorne auf der kleinen Windschutzscheibe des sogenannten Tuk-Tuk klebt ein Aufkleber des Roten Halbmonds, der sein kleines klappriges Gefährt als Krankentransport ausweisen soll. „Wir arbeiten als Kranken-Tuk-Tuk-Fahrer im Dienste des Volkes“, sagt der 20-Jährige Iraker stolz.
Es sind diese Tuk-Tuks, die bei den Protesten im Irak überall zu sehen sind. Wenn Demonstranten vor den Schüssen der Sicherheitskräfte flüchten, brettern die dreirädrigen Motorrikschas in die Gegenrichtung an die Front der Auseinandersetzungen, um Verletzte und Tote zu bergen. 19.000 Verletzte und über 400 Tote haben sie in den letzten Wochen schon aus der Schusslinie gebracht, seitdem die Protestbewegung gegen staatliche Misswirtschaft und Korruption weite Teile des Landes erfasst hat.
Er sei nun bereits seit 15 Tagen ununterbrochen hier, übernachte sogar auf dem Platz, erzählt der Tuk-Tuk-Fahrer Doghram. Seitdem habe er seine Familie nicht mehr gesehen. Eine medizinische Gesichtsmaske baumelt einsatzbereit an Doghrams Hals. Diese vermittelt nicht nur eine gewisse medizinische Autorität, sie erweist sich auch bei Tränengaseinsätzen als ausgesprochen praktisch.
Erst gestern habe es wieder drei Tote in der Nähe gegeben. „Einer davon hatte einen Kopfschuss und ist unterwegs in einem anderen Tuk-Tuk verstorben. Wie lange soll das noch so weitergehen“, fragt Doghram. Angst habe er keine, versichert er. „Wenn um mich herum geschossen wird, das kümmert mich nicht. Ich denke dann immer nur an eines: Den Verletzten ins nächste Krankenhaus zu bringen, bevor er stirbt.“
Tuk-Tuk-Fahrer: Vom Ärgernis zum Lebensretter
Es ist eine Art Ehrenkodex, dass die Tuk-Tuk-Fahrer all ihre Hilfe unentgeltlich tun. Mitten auf dem Tahrir-Platz steht eine ausgebrannte Motorikscha, daran ist ein Zettel angbracht. „Spendet für die Tuk-Tuks, wir gehen auf die Straße und kämpfen für unsere Rechte“, steht dort geschrieben. Regelmäßig wirft einer der Demonstranten einen Schein in den offenen Karton, der an dem Rikscha-Skelett festgebunden ist. Mit den Spenden sollen die Tuk-Tuk-Fahrer ihr Benzin kaufen.
Die Tuk-Tuk-Fahrer, jahrelang mit ihrer rücksichtslosen Fahrweise und ständigem Hupen ein Ärgernis aller anderen Verkehrsteilnehmer in Bagdad, sind seit Beginn des Aufstands am 1. Oktober, der vor allem von Jugendlichen getragen wird, Teil der irakischen Popkultur geworden. Sie werden in Liedern besungen und sind der Stoff von Heldengedichten. Sogar eine kostenlose Zeitung, die gelegentlich auf dem Platz verteilt wird und die die Demonstranten mit den neuesten Nachrichten aus ihren eigenen Reihen versorgt, trägt den Namen Tuk-Tuk. Deren Fahrer haben ein neues Selbstbewusstsein. Einer von ihnen ruht sich auf dem Tahrir-Platz mittags gerade im Schatten seines Fahrzeugs aus, auf dem er ebenfalls einen Zettel angebracht hat. „Diejenige, die mich heiratet, deren Name wird fortan mein Tuk-Tuk schmücken“, lautet das Angebot.
An der Gumhuriya-Brücke über den Tigris verläuft einer der Fronten in Bagdad. Diese ist mit großen Betonbarrikaden blockiert, damit nicht Sicherheitskräfte oder Milizen überraschend auf den Platz gestürmt kommen. Außerdem gibt die Blockade Deckung vor den Scharfschützen, die in einem roten Hochhaus auf der anderen Seite der Ufers ihrer Einsatzbefehle harren.
Gleich hinter der Barrikade wartet ein feuerrotes Tuk-Tuk auf alle Eventualitäten. Es ist wie viele der Rikschas mit einem Zweierteam bestückt. Einer fährt, der andere nimmt den Verletzten auf der engen Rückbank in den Arm. Platz, um Verwundete hinzulegen, gibt es nicht. Rahimi ist bei diesem Tuk-Tuk der Mann auf der Rückbank und so etwas wie der Sanitäter. Er deutet auf die Plastikflaschen mit Salzlösung, die überall an dem Gefährt herumbaumeln. „Die sind da, falls die andere Seite Tränengas einsetzt“, erklärt er. Damit würde er dann den Demonstranten die Augen auswaschen und sie ihren Mund ausspülen lassen, bis die Wirkung des Gases nachlässt. „Die benutzen nicht das Gas, dass normalerweise weltweit von der Polizei eingesetzt wird, sondern stärkeres Tränengas, wie es normalerweise beim Militär im Einsatz ist“, betont er. Anders als die Wagen der anderen Seite sind ihre Fahrzeuge nicht gepanzert. „Zwischen uns und den Kugeln, die ins unsre Richtung gefeuert werden, ist nur ein bisschen Blech, Polsterung aus Kunstleder“, beschreibt Rahimi die ungleiche Ausgangslage.
Der junge Mann ist aber nicht nur hier, um Verletze wegzubringen. Er sieht sich auch als ein Teil der Protestbewegung. „Wir sind hier auf der Straße, um den Irak von diesen Dieben zu befreien, die uns all unser Geld und unsere Rechte genommen haben. Wir jungen Iraker wollen eigentlich nur ein menschenwürdiges Leben“, erläutert er. „Nimm mich als Beispiel“, führt er weiter aus. „Ich habe eigentlich Ölingenieur studiert und spreche vier Sprachen. Aber hier im Irak fragt niemand nach mir.“ Er ist beileibe nicht der Einzige, der in dem ölreichen Land für sich keinerlei Perspektive sieht. Zahlen der Weltbank belegen, dass 22 Prozent der Iraker unter der Armutsgrenze leben und ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist.
Auf die Frage, was für ihn im Tuk-Tuk-Einsatz sein schwerste Erlebnis in den letzten Wochen war, denkt Rahimi ein ganze Weile nach: „Das war, als ich hinten mit einem verletzten Jungen saß“, beginnt er. Der sei vielleicht 15 oder 16 Jahre alt gewesen und hatte einen Kopfschuss. „Ich hielt ihn im Arm, als er starb. Dann klingelte sein Handy und seine Mama war dran“, erinnert er sich. Sie fragte, warum nicht ihr Sohn Abbas antwortete. „Sie fragte immer wieder, wo ist mein Sohn, wo ist mein Sohn? Ich antwortete ihr, dass ihr Sohn sein Handy bei mir vergessen hatte. Ich konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen.“ Rahimi hält inne. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Rahimi, Tuk-Tuk-Fahrer in Bagdad
Aber oft sind es auch die Tuk-Tuk-Fahrer selbst, die ihren Einsatz nicht überleben. Eine halbe Autostunde vom Tahrir-Platz im Zentrum Bagdads entfernt: Eine Gruppe von Kindern spielt bei einer ausgebrannten Motorrikscha, die am Rand einer Hauptverkehrsstraße steht, die durch das Bagdader Armenviertel Sadr City führt. Die Kinder klettern durch das ausgebrannte Wrack und spielen den Einsatz ihrer Helden und Vorbilder nach. „Wir trauern um den Fahrer Ahmad al-Lami“, heißt es auf einem schwarzen Banner, das in der leichten Brise flattert. Ein anderer Tuk-Tuk-Fahrer, der ein paar Fahrgäste durch das Viertel kutschiert, hält kurz an und blickt still den Kindern beim Spielen zu, wohl in Gedenken an seinen Kollegen, der in der Nachbarschaft als der „Tuk-Tuk-Märtyrer“ bekannt ist.
Gleich neben dem ausgebrannten Wrack geht es in eine Gasse, in der der Verstorbene gelebt hat. In seinem einfachen Haus findet gerade die Trauerfeier statt. Verwandte und Freunde sind zusammengekommen und sitzen entlang der Wände eines Raums auf dem Boden, an dessen Ende ein Porträt des Verstorbenen aufgebaut ist. Wie es sich für diese konservativ schiitische Nachbarschaft gehört, befinden sich die Männer in einem, die Frauen in einem anderen Raum.
Trauerfeier für Tuk-Tuk-Märtyrer Ahmad al-Lami
Der Onkel des Verstorbenen, Abu Seif al-Lami, erzählt Ahmads Geschichte. Der 21-Jährige war einer der Tuk-Tuk-Krankentransporter. Vor zwei Tagen wurde er dabei selbst erschossen, als er auf der „Brücke der Freien“ über den Tigris im Einsatz war, einem der derzeit gefährlichsten Orte in Bagdad. Sein Tuk-Tuk wurde anschließend angezündet. Die Familie konnte Ahmad am nächsten Tag im Leichenschauhaus abholen. Der Onkel holt ein rosafarbenes Papier hervor: die Sterbeurkunde. „Tödlicher Schuss in den Rücken“, heißt es dort. Abu Seif hat keinerlei Zweifel, wer die Verantwortung trägt. „Natürlich hat ihn der Staat getötet, die Regierung, sonst war niemand mit Waffen auf dieser Demonstration“, ist er sich sicher. Ahmad habe einfach nur seinen Brüdern helfen und für seine Rechte kämpfen wollen. „Er wollte Veränderung, er war unbewaffnet“, sagt er.
Sadr City ist ein Armenviertel, in dem sich die schiitische Landbevölkerung aus dem Süden niedergelassen hat. Über eine Million Menschen sollen dort leben, wie viele genau, weiß niemand. Sadr City ist eine Hochburg schiitischer religiöser Parteien. Auch die schiitischen paramilitärischen Milizen rekrutieren hier ihre Kämpfer. Aber in dem Heim des erschossenen Tuk-Tuk-Chauffeurs hat sich neben tiefer Trauer auch viel Wut und Ärger gegen die Regierung, das Parlament und gegen die staatlichen Institutionen angestaut, die genau von diesen schiitischen Parteien dominiert werden. „Nach dem Sturz Saddams dachten wir, die religiösen Parteien werden unsere Zukunft aufbauen. Stattdessen haben sie unser Land zerstört und jetzt bringen sie uns um, anstatt Arbeit für die jungen Menschen zu schaffen“, sagt Ahmads Großvater Abdel Ali al-Lami mit lauter und ärgerlicher Stimme.
Abdel Ali al-Lami, Großvater des getöteten Tuk-Tuk-Fahrers Ahmad
Im Trauerraum findet, wie an vielen Orten im Irak, ein Paradigmenwechsel statt. Früher stand die eigene religiöse Identität im Vordergrund und die politische Bruchlinie verlief zwischen Schiiten und Sunniten, bis hin zu einem Bürgerkrieg. Heute wenden sich die Menschen eher gegen die Führung der eigenen Religionsgruppe, die in ihre eigenen Taschen wirtschaftet. „Sie haben die Religion als Waffe benutzt. Sie waren einst so arm wie wir und plötzlich fuhren sie große Autos und hatten eine ganze Armee von Leibwächtern“, beschreibt der Großvater die Entwicklung der vergangenen Jahre. Immer wieder ziehen die Trauernden auch über das Regime im benachbarten, ebenfalls schiitischen Iran her, das zu viele politischen Angelegenheiten des Irak kontrolliere und die Regierung gegen die Demonstranten aufhetze. „Unsere Politiker sind nichts anderes als iranische Agenten“, ist ein im Raum häufig zu hörender Satz.
Der jüngere Alaa al-Lami lenkt das Gespräch wieder auf seinen verstorbenen Bruder Ahmad. Der hätte sich das Tuk-Tuk erst vor wenigen Wochen für umgerechnet 3.400 Dollar und mithilfe eines Kredits gekauft. Doch anstatt damit Geld zu verdienen, um seine Schulden zurückzuzahlen, habe er es als seine Pflicht empfunden, damit zu den Demonstrationen zu fahren, um sich um die Verletzten zu kümmern, blickt Alaa zurück. „Jetzt ist mein Bruder tot und sein neues Tuk-Tuk ist nur noch ein verbranntes Wrack.“ Eigentlich, meint Alaa, sollten offizielle staatliche Krankenwagen die verletzten Demonstranten abholen. Aber das sei nicht zu erwarten. „Der Staat lässt doch nicht auf dich schießen und schickt dir dann einen Krankenwagen. Nein, die würden dich auf der Straße liegen lassen, bis du verblutest“, schlussfolgert er.
Draußen vor dem Haus hat sich inzwischen eine Gruppe von Freunden des erschossenen Fahrers versammelt. Sie haben ein etwas altmodisch wirkendes dunkelblaues Jackett mit hellblauen Streifen und die dazugehörige Krawatte mitgebracht. Die Kleidungsstücke habe der Tote erst vor wenigen Wochen gekauft. Er habe demnächst darin heiraten wollen, erzählen sie.
Die letzten Videos eines Toten
Es sind gut zwei Dutzend Freunde, die gekommen sind, um über Ahmad zu sprechen. Offensichtlich war der junge Mann in seiner Nachbarschaft sehr beliebt. Den ganzen Tag hätten sie sein Lachen gehört. Alle hier haben ihn gemocht, erzählen sie, besonders weil er so hilfsbereit gewesen sei. „Als einer seiner Freunde verhaftet wurde, ist Ahmad zur Polizeiwache gefahren und hat angeboten, an dessen Stelle ins Gefängnis zu gehen, denn sein Freund ist verheiratet und hat Kinder“, erzählt Abbas, Ahmads bester Freund. Sie hätten ihn verprügelt und nach Hause geschickt.
Dann zücken die Freunde ihre Handys, um ihre Worte zu untermauern. Sie präsentieren Videos von Ahmad. Die zeigen einen lebenslustigen jungen Mann, er in seinem Tuk-Tuk sitzt und scherzt. Es folgt ein Video von der Trauerfeier am Tag, nachdem Ahmads Leiche im Haus ankam. Ein schiitischer Scheich zitiert aus dem Koran. Einer der jungen Freunde ist zu sehen, wie er sich mit der Faust ununterbrochen auf den Kopf schlägt und dabei laute Schreie loslässt. Ein anderer steht auf und reißt sich das Hemd auf, schluchzt unkontrolliert und schlägt um sich, bis ein älterer Mann zu ihm kommt, seine Arme herunterdrückt und ihn an sich drückt. Es sind ungebremste Gefühle der jungen Iraker für einen der ihren, der im Kampf für Veränderung und ihre Zukunft sein Leben ließ.
Das letzte Video zeigt die Beerdigung. Familie und Freunde feuern aus Respekt für den Toten mit ihren Kalaschnikows in die Luft, wie es traditionell üblich ist. Eine Salve folgt der anderen. Es ist ein Beweis dafür, dass sie alle Waffen zu Hause haben. Es grenzt eigentlich an ein Mirakel, dass die Demonstranten trotzdem bisher unbewaffnet auf die Straße gehen und friedlich demonstrieren. Aber es ist ein Wunder, dessen Ablaufdatum immer näher rückt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!