Protest gegen Seehundrichtlinie: Jäger ohne Kontrolle
Hunderte kranke, verletzte oder gestrandete Seehunde werden jedes Jahr von Seehundjägern getötet. Dagegen regt sich Widerstand.
Und es gibt eine Seehundrichtlinie. Sie betrifft 40 Seehundjäger und damit alle in ihren Revieren sich tummelnden Seehunde, obwohl die offensive Jagd auf sie seit 1974 ganzjährig verboten ist. Dessen ungeachtet wurden im vergangenen Jahr 658 Seehunde erschossen. Die Seehundjäger bekommen 45 Euro pro Todesschuss.
Seltsamerweise fand ich in den Archiven der F. A. Z., des Spiegel und der taz keinen einzigen Artikel über diese „Seehundrichtlinie“. Dabei haben inzwischen schon mehr als 85.000 Unterstützer sie mit einer Petition (change.org/seehunde) bekämpft. Und der Kampf geht weiter, Robert! Gemeint ist der ehemalige grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein, Robert Habeck, in dessen Verantwortung die Richtlinie lag. Die Kritiker – Tierärzte, Naturschützer und Robbenliebhaber – verlangen eine „tierschutzgerechte Neufassung“ – inzwischen von Habecks Nachfolger Jan Philip Albrecht (Grüne).
Eine ihrer Sprecherinnen und Initiatorin der Petition ist die Tierheilpraktikerin Bettina Jung, Mitgründerin der Initiative „Ethia – Leben in die Politik!“ Von ihr erfuhr ich: Das Töten der durch die FFH-Richtlinie geschützten Robben geschieht ohne Einbeziehen eines Tierarztes. Es reicht, wenn der Seehundjäger sagt, das Tier sei unheilbar krank gewiesen. Er entscheidet über Leben und Tod des Seehundes. Kein Gedanke, dass man auch ein krankes Tier mit Geduld und Kenntnis gesundpflegen kann, dass gerade bei verlassenen Heulern nur ihre Austrocknung und der Nahrungsmangel ausgeglichen werden müssen, dass bei Lungenwürmern häufig eine Wurmkur hilft.
Einem Tierarzt oder den Mitarbeitern einer Wildtierstation ist es nur 24 Stunden lang erlaubt, eine Erstversorgung vorzunehmen. „Für kein anderes Wildtier gibt es eine derartige Regelung,“ heißt es in einem „Factsheet“ der Richtlinienkritiker: „Das Land Schleswig-Holstein hat die komplette Verantwortung der Jägerschaft übergeben und als ‚Kontrollinstanz‘ das Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) der Tierärztlichen Hochschule Hannover eingesetzt.“
Von einer echten Kontrolle der Seehundjäger durch das ITAW in Büsum kann aber wohl keine Rede sein, denn beide sind anscheinend eher an toten als an lebenden Seehunden interessiert. Auf der Internetseite jawina.de (Jagd Wild Natur) heißt es in einem Bericht aus dem ITAW: „Außer dem Kegelrobbenbullen warten eine ganze Reihe noch auftauende Robben und Seehunde darauf, seziert zu werden. Forschungsmaterial, das die Seehundjäger anliefern.“
Die sich im ITAW mit Schweinswalen und Seevögeln als Opfer der Fischerei beschäftigende Meeresbiologin Ilka Hasselmeier wurde noch deutlicher: „Wir sind froh, dass die Seehunde dem Jagdrecht unterliegen. Wenn wir die Seehundjäger nicht hätten, sähen wir dermaßen alt aus. Deshalb – und um die Seehundjäger bei ihrer Tätigkeit rechtlich abzusichern – plädieren wir dafür, dass auch die Kegelrobbe ins Jagdrecht aufgenommen wird.“
Kegelrobben sind nach der FFH-Richtlinie streng geschützt, deswegen werden sie von den Seehundjägern bis jetzt wohl noch illegal abgeschossen. Diese können laut „Augenzeugenberichten“ oft sowieso keinen Seehund von einer Kegelrobbe unterscheiden. Für die Kritiker der Seehundrichtlinie ist das natürlich ein „Skandal“, auch dass Ilka Hasselmeier selbst auf Seehundjagd geht, wie man dem Friesenanzeiger im August 2016 entnehmen konnte. Umgekehrt finanziert die Landesjägerschaft laut der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover auch schon mal eine „wissenschaftliche Forschung“ am ITAW.
Deutschland hat sich mit Dänemark und den Niederlanden zum „Trilateralen Wattenmeer-Abkommen“ zusammengeschlossen: Im Gegensatz zu den beiden Nachbarländern hat Deutschland seine Seehundjäger aber noch nicht abgeschafft, sondern sie im Gegenteil mit Forschung verbunden und dadurch aufgewertet, wenn nicht gar personell verstärkt.
Seehunde sind geschützt und dürfen seit 1974 nicht mehr bejagt werden. Sie unterliegen jedoch dem Jagdrecht.
Speziell geschulte Seehundjäger kümmern sich um gestrandete, verletzte oder todkranke Tiere.
Ob ein Seehund am Ort belassen, in einer Seehundstation behandelt oder getötet wird, entscheiden die Seehundjäger.
Rund 40 Seehundjäger sind in Schleswig-Holstein für diese Aufgabe qualifiziert.
Jährlich etwa 250 bis 300 Seehunde mussten Seehundjäger in den vergangenen Jahren allein in Schleswig-Holstein töten.
Es liegt ein typischer Polit-Kompromiss vor: Man wollte mit diesem ganzen Seehund-Tötungsverfahren wahrscheinlich das alte Gewohnheitsrecht der friesischen Seehundjagd so schonend wie möglich brechen. In der Praxis, im Leben, ist dabei, wie so oft, etwas korruptiv Illegales herausgekommen. Exemplare einer geschützten Tierart dürfen nur aus medizinischen Gründen getötet werde. Demnach dürfte das also nur von einem Tierarzt nach einer Untersuchung veranlasst werden. Ein auf Sylt tätiger Seehundjäger spricht davon, dass er die Tiere von ihrem Leiden erlöst.
Von allen erschossenen Seehunden wird etwa jeder fünfte auf eine rechtmäßige Tötungsentscheidung hin vom ITAW untersucht. Zwar bietet das ITAW diesbezüglich Kurzschulungen für die Jäger an, die Teilnahme an den Schulungen ist jedoch keine Pflicht und es gibt keinerlei Prüfung. Dafür durfte einer aus den Reihen der Seehundrichtlinien-Kritiker nicht daran teilnehmen, obwohl er einen Jagdschein besitzt und eine Wildtierstation leitet, aber ihm fehlte ein „Fürsprecher“ aus den Reihen der etablierten Seehundjäger.
Und weil es für verwaiste Jungseehunde, Heuler, nur eine Auffangstation in ganz Schleswig-Holstein gibt, in Friedrichskoog, werden auch schon mal Heuler getötet, „weil kein Platz mehr für sie da war“, wie die Schleswig-Holsteinische Zeitung berichtete. Auf der Station haben einige Seehunde und Kegelrobben ein Dauerquartier, Besucher können sie dort besichtigen.
Ansonsten heißt es auf ihrer Internetseite: Wenn man auf einen Heuler trifft, soll man ihn auf keinen Fall anfassen – sondern umgehend den zuständigen Seehundjäger benachrichtigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern